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Gedanken zu “Ulysses” von James Joyce (3) – Leopold Bloom

Sein Kopf bleibt jüdisch, sein Körper und insbesondere der Verdauungstrakt haben sich, durch die Vorliebe für nicht koschere Speisen, mindestens kulinarisch an ihre irländische Umgebung assimiliert.

Leopold Bloom

Leopold Blooms Vater war ein ungarischer Immigrant, der in Irland zum Protestantismus konvertierte und sich später das Leben nahm. Leopold selbst trat der katholischen Kirche aufgrund der Ehe mit Molly geb. Tweedy bei. Jener Penelope, die immerzu liegt, wenn sie nicht gerade auf der Bühne steht und singt. Bloom ist Annoncenakquisiteur und jenes beruflichen Status wegen prädestiniert zum ruhelosen Wanderer im labyrinthischen Dublin und seinen spinnennetzartigen personalen, sozioökonomischen, politischen und kulturellen Verflechtungen. Sein Kopf bleibt jüdisch, sein Körper und insbesondere der Verdauungstrakt haben sich, durch die Vorliebe für nicht koschere Speisen, mindestens kulinarisch an ihre irländische Umgebung assimiliert.

Ahasver

Ist Leopold Bloom im Auge seiner fiktiven Zeitgenossen ein Spiegelbild des ewigen, wandernden Juden Ahasver, einem Schuhmacher, der angeblich um das Jahr 30 n.Chr. in Jerusalem lebte und Jesus einen Ketzer nannte? Er soll zu dessen Kreuzigung aufgefordert und ihm auf der Via Dolorosa auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte Golgatha eine Ruhepause vor seinem Haus verweigert haben. Darauf soll Jesus folgende Worte an ihn gerichtet haben: “Ich will stehen und ruhen, du aber sollst gehen.” Mit diesem Fluch sei Ahasver zur ewigen Wanderschaft durch die Zeit verdammt worden, ohne sterben zu können. Spätere Mythisierungen haben dieses Einzelschicksal als Vorbild dessen genommen, was dem Judentum insgesamt als Schicksal auf der Stirn geschrieben sei. Der Antisemitismus und vor allem seine zynischste Variante des Nationalsozialismus haben aus dieser mythischen, singulären Figur das auszumerzende Schicksal des ganzen jüdischen Volks gemacht.

Ist Bloom nun das moderne Abbild des Ahasver? Zu seiner Profession gehört das Wandern, ohne Frage. Zurückversetzt in die biblische Zeit des neuen Testaments hätte er jedoch Jesus jede nur erdenkliche Unterstützung angedeihen lassen, da er empathisch ist und sich jedes religiös motivierten Vorurteils entsagt. Ist er ruhelos? Ohne jede Frage, da er sich in Gedanken der Untreue seiner Frau in jedem Augenblick seiner Eintages-Odyssee durch Dublin bewußt ist. Ist er heimatlos? Das kann mit Fug und Recht bestritten werden. Bloom weiß, wohin er gehört. Gewiss zurück an die Seite seiner untreuen Frau nämlich, seiner geliebten Tochter und in sein Haus in der Eccles Street No. 7. Obwohl der weitere Fortgang seiner Ehe in der Schwebe steht und er ganz in die absolutierenden Hände Mollys gelegt ist..

Patriotismus Nationalismus Chauvinismus

Ist Leopold Bloom ein Patriot? Ja, da er Irland als seine Heimat begreift. Ist er ein Chauvinist? Nein. Seine jüdischen Wurzeln hat er nicht abgelegt und sie sind die Ursache seines geschmeidigen Lavierens über Frontlinien hinweg, die im Irland seiner Zeit (1904) immer noch gezogen sind. Hüben der Katholizismus, drüben der Protestantismus. Hier die protestantischen Großgrundbesitzer, dort die katholischen Landpächter und die Ärmsten der Armen. Er hat Verständnis einerseits für die republikanischen Bestrebungen, die vom katholischen Klerus und den ärmeren Schichten von Stadt und Land befeuert werden. Andererseits befürchtet er Exzesse der Gewalt, falls es zum Clash mit den protestantischen Anhängern des britischen Empires kommen sollte. Der Chauvinismus, begriffen als agressiv übersteigerter Nationalismus und verbunden mit der gänzlichen Missachtung anderer Nationalitäten, ist nicht die Welt seiner Gedanken und seiner Haltung. Als Fremder im eigenen Land schlägt sein moralischer Kompass immer in Richtung der Opfer aus, da er selbst Opfer chauvinistischer und antisemitistischer Haltungen ist. Ist Bloom ein Nationalist? Gewiss, in der neutralsten aller denkbaren Arten des Nationalismus, der allein auf die Freiheit vom Okkupanten bedacht ist und sich nicht dem hasserfülltem Wunsch nach dessen Ausmerzung hingibt:

– Verfolgung, sagt er (Bloom), die ganze Weltgeschichte ist voll davon. Dadurch verewigt sich der Nationalhass unter den Nationen.
– Aber wissen denn Sie überhaupt, was das ist, einen Nation? sagt John Wyse.
– Oh ja, sagt Bloom.
– Und was, bitt schön? sagt John Wyse.
– Eine Nation? sagt Bloom. Eine Nation, das sind Leute, die am selben Ort wohnen.

– Welcher Nation gehören Sie denn an, wenn ich fragen darf, sagt der Bürger.
– Irland, sagt Bloom. Ich bin hier geboren. Irland.
(…) – und dann gehöre ich noch einer Rasse an, sagt Bloom, die gehasst und verfolgt wird. Heute noch. In eben diesem Augenblick. Genau in dieser Sekunde.
(…) – Beraubt, sagt er. Ausgeplündert. Beschimpft. Verfolgt. Um die Habe gebracht, die uns nach Recht und Gesetz gehört. In eben diesem Augenblick, sagt er und hebt die Faust, auf der Versteigerungsbühne in Marokko unten wie Sklaven oder Vieh.

Liebe

Was ist Leopold Blooms Mittel gegen die Geschichte von Hass und Gewalt, die das Leben von Männern und Frauen bestimmt? Es ist die Liebe. Die Liebe sei das wirkliche Leben, sie sei das genaue Gegenteil von Hass. Die Liebe ist eine Zierde, eine Blume, die Bloom sich nicht immer ansteckt. Im Gegenteil, sie wird in ihm selbst oft genug herabgewürdigt. Zum Einen durch seinen sporadisch aufflackernden misogynen Blick auf Frauen, auf ihre verführerische Verderbtheit, ihre wohlkalkulierten Lockungen. Wenn Männer sich in ihrer körperlichen Eitelkeit und Standfestigkeit nicht ernst genommen fühlen, so leiten sie daraus gleichwohl ein durch niemand verbrieftes Recht auf Erfüllung in körperbezogenen Liebesdingen ab. Oder andersherum, das Recht auf das Ausleben gewalttätiger Reaktion auf derlei Kränkung des Ichs. Da Bloom den Ehebruch seiner Frau nicht lauthals geißelt, seine Frau nicht zur Rede stellt oder gar den Nebenbuhler, könnte man ihm zugutehalten, sich mit misogynen Gedanken kompensatorisch oder sublimierend Erleichterung zu verschaffen. Diesen Umstand lassen wir ihm als heutige Leser selbstverständlich nicht durchgehen.

Kosmopolitismus

Könnte man Leopold Bloom einen Kosmopoliten nennen? Sein Kosmos ist Dublin. Jenen Kosmos zu erfassen und begreifen, erfordert Empathie und die teilweise Herauslösung streitbarer Elemente aus seinem Charakter. Im Labyrinth, das dieser Kosmos ist, navigiert es sich besser durch sympathetische Anteilnahme an den Schicksalen des Personengeflechts, das ihn umgibt und definiert. Arbeitgeber und Kunden, Bekannte und Verwandte, Gegner auch und Nebenbuhler. Oder jene Frauen, die durch seine erotischen Träumereien, bisweilen handfeste, in sein Blickfeld rücken. Es gibt keinen neutralen Hintergrund, das Schicksal der Stadt wird durch die Katalysatoren der Gedanken und Gefühle der Personen wiedergegeben und trotzdem bleibt ein Überhang dessen, wie die Stadt selbst sich fühlt und denkt. Alles verwoben, alles verquickt. Die Kunst ist begreifbar zu machen, dass Dublin vor den Lebenden schon immer existierte. Präexistenz gewissermaßen, die platonische Idee einer universalen Stadt. Die Stadt ist Ewigkeit, die Menschen darin nur auf der Durchfahrt oder Heimfahrt. Die Stadt repräsentiert die Götter der Odyssee, den Olymp, in dem es auch ein paar Halbgötter gibt, die dem Spott unterworfen sind in dem Blick, den wir auf sie werfen.

Odysseus war kein Hahnrei. Penelope hielt ihm die Treue. Der um seine Frau buhlenden Männer entledigt er sich listig und brutal. Ebenso verfährt er mit dem Teil des verräterischen Gesindes. Man könnte den Bloomschen Masochismus als jenes Mittel benennen, welches zur passiven Überwindung seiner Nebenbuhler (und nicht nur der erotischen) beiträgt. Wenn man will, könnte man einige Verhältnisse Leopold Blooms zu seinen Mitmenschen als das Hegelsche dialektische Verhältnis zwischen Herr und Knecht ausdeuten, als die Anerkennung des Knechtes in seinem Bemühen um Selbstbewusstsein und Identität. In sadomasochistischen Verhältnissen ist das Objekt Subjekt insofern, als es aus seiner Unterwerfung Lust und Befriedigung erfährt und am Ende eine durch Schmerz und Unterwerfung stabilisierte Identität.

Masochismus

Sein Gehabe von Unterwürfigkeit, Lobhudelei etc. könnte man auslegen als geniale Camouflage, als Listigkeit seiner Natur, um Auseinandersetzungen, Spöttereien, Herabwürdigungen und dem Ehebruch zu begegnen. Als ob er sich aller Unsicherheit zum Trotz sicher sei, am Ende seiner Fahrt alle Widrigkeiten zu überwinden. Leopold Bloom ist der wandelnde Beweis dafür, dass leise Ironie nicht nur den Spalt zwischen seinen Gedanken und seinen (kontrapunktischen) Handlungen öffnet, sondern sich als intellektuelles Instrument eignet, mit einem unerschütterlichen, verwegen zu nennenden Stoizismus Fremdurteile und seine Entfremdung im eigenen Land abzufedern. Sich nicht fremd zu werden im entfremdenden Umfeld bedarf gewisser psychischer Mechanismen, wozu nach außen ein behutsames Ausgleichsdenken gehört, nach innen gerichtet die Bejahung der identitätsstiftenden erotischen Phantasien.

Leopold Bloom sei ein Durchschnittstyp Dublins. Dieses literaturkritische Urteil glaubt die Anstrengungen eines Autors kleinreden zu können, der in diesem Durchschnittsmenschen das Hohe und das Niedere, das Kenntnisreiche und die Dummheit, das Fürsorgliche und die Empathielosigkeit, die Gaumen- und die erotischen Freuden unter den Bloom‘schen Bowlerhut zu bringen versucht. Im Durchschnitt ist ja alles versammelt. Man muss ihn betrachten als Gaußsche Normalverteilung von Merkmalen eines Alltags der Menschheit. Oder in Bezugnahme auf Gödels Unvollständigkeitssatz, als das Offene einer Existenz, die um das Glück ringt, die sich bemüht, angesichts des Todes und der ehelichen Untreue, dem Leben in all seinen Facetten einen Sinn abzutrotzen.

Die Heilige Dreifaltigkeit

Zu welchem Geschick die Götter Dublins Leopold Bloom auf die Reise schickten, das wird sich am späten Abend und in der darauf folgenden Nacht eröffnen. Die Irrfahrten als Spielball der Götter, sie werden ein Ende nehmen. Ob an deren Ende die Selbstermächtigung steht und eine neue, sinnstiftende Rolle, die des konsubstantionellen Vaters eines neuen Sohnes, der zur Rechten des Vaters sitzt, das alles bleibt abzuwarten. Immerhin stehen noch weitere vier Kapitel des Ulysses als Lektüre aus. Durch die sinnbildliche Adoption Stephens wäre die heilige Dreifaltigkeit hergestellt: Der Vater, das Wort und die Stimme des Vaters (der Heilige Geist) und der Logos des in seinen literarischen Ambitionen zu sich kommenden Sohn Stephen Dedalus. Wo Hamlet nur der Geist des eigenen Vaters blieb, hätte Stephen Dedalus zum lebendigen Geist des eigenen Vaters einen inspirierenden und schützenden neuen Vater an seiner Seite. Wo Hamlet nur die Rache blieb und letztlich daran scheitert, bleibt Stephen die Rache an Vaterland und Kirche erspart. Er kann endlich seine Flügel ausbreiten wie Ikarus, ohne sich fürchten zu müssen vor dem Scheitern seines Flugs. Telemach hat seinen wiedergefundenen Vater Odysseus. Ihr Schicksal ist verknüpft, der Eine ist ohne den Anderen nicht mehr zu denken. Bloom ist kein Ahasver und Stephen wird auf Reisen gehen, Irland verlassen und sich ihm immer verbunden fühlen.


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