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Letzte Sätze 28 – Maggie O‘Farrell – Judith und Hamnet
Ich erlaube mir, die letzten Sätze von Romanen vorzustellen. Aus allen Epochen seit Anbeginn dieser modernen Erzählform. Romane, die meinen Literaturgeschmack prägten und prägen. Glückliche Romanenden, melancholische Enden. Kontrafaktische Enden, bornierte Enden, fahrlässige Enden. Endzeiten, apokalyptische Enden, enträtselnde Enden und immer so weiter. Keine Epiloge, keine Nachrufe, keine fiktiven oder nonfiktiven Autorenkommentare zum zuvor Erzählten. Enden sind Höhepunkte des Erzählten, dort wo sie hingehören. An den Schluss.

Hier auf der Bühne ist Hamlet zwei Menschen – der junge Mann am Leben und der Vater tot. Er ist zugleich am Leben und tot. Ihr Mann hat ihn auf die einzige Weise zum Leben erweckt, die er kennt. Während der Geist spricht, begreift sie, dass ihr Mann sich, indem er sein Stück schrieb und die Rolle des Geistes übernahm, an die Stelle seines Sohnes gesetzt hat. Er hat seinen Tod zu seinem eigenen gemacht; er hat sich dem Tod selbst in die Klauen geworfen und den Jungen an seiner Stelle wieder auferstehen lassen.
„O furchtbar, o furchtbar, unsäglich furchtbar!“ murmelt die schaurige Stimme ihres Mannes und ruft seine Todesqualen wieder wach. Er hat getan, begreift Agnes, was sich jeder Vater gewünscht hätte: das Leiden seines Kindes gegen sein eigenes einzutauschen, sich selbst anstelle des Sohnes zu opfern, damit der Junge vielleicht lebt.
All das wird sie später zu ihrem Mann sagen, wenn das Stück vorbei ist, wenn endgültig Stille eingetreten ist, wenn die Toten aufgesprungen sind, um ihren Platz in der Reihe der Schauspieler am Bühnenrand einzunehmen. Wenn ihr Mann und der Junge sich die Hände reichen und sich in einem fort vor dem tosenden Saal verbeugen. Wenn die Bühne wieder verwaist ist, keine Festungsmauer, kein Friedhof, keine Burg mehr. Wenn er sich auf die Suche nach ihr macht, das Gesicht immer noch hier und da verschmiert, und sich einen Weg durch die Menschenmassen bahnt. Wenn er sie an der Hand nimmt und sie an seine Rüstung voller Schnallen und Leder drückt. Wenn sie sich im offenen Rund des Theaters wiederfinden und ausharren, bis es leer ist wie der Himmel darüber.
Doch in diesem Augenblick steht sie ganz vorn in der Menge, am Rand der Bühne, hält sich mit beiden Händen an ihrem hölzernen Rand fest. Eine oder zwei Armlängen von ihr ist Hamlet, ihr Hamlet. Wie er hätte sein können, wenn er noch lebte, und der Geist, der die Hände und den Bart ihres Mannes hat, der mit der Stimme ihres Mannes spricht.
Sie streckt eine Hand aus, als wolle sie ihnen ein Zeichen geben, die Luft zwischen ihnen dreien spüren, als wünschte sie, sie könne die Grenze zwischen Schauspielern und Publikum, zwischen wirklichem Leben und Theater einreißen.
Als er sich anschickt abzugehen, dreht der Geist den Kopf in ihre Richtung. Er sieht sie unverwandt an, erwidert ihren Blick und spricht seine letzten Worte: „Gedenke mein“.