Die Heimtücke der Worte

Den Worten folgen? Wenn sie abgelegt sind in Gedichten und Geschichten, auf einem Tisch erlesenerer Worte. Ihnen zu folgen? Darüber muss ich lachen, ich kann nicht anders. Ein den Geist trübe und mürbe machendes Gelage erlesenster Wortspeisen, mit Hochprozentigem garniert. Und das Wort stolpert betrunken, über die Füße des eigenen Sinns. Ihm zu folgen? Dem Wort zu folgen würde bedeuten, seiner unterschiedslosen Bedeutung zu folgen. Indem man dem Wort als Zeichen unterstellt, dass es nur eine Bedeutung hat. Dass Zeichen und Bedeutung eine Einbahnstraße sind, mit der Gewissheit, sich nicht verfahren zu können. Und dass das Verständnis der Bedeutung eine ausgemachte sichere Bank ist, verlässlich und den Zeiten enthoben, mit ansprechenden Zinsen. Darin besteht die Heimtücke der Worte.

Texte sprechen eine Sprache, wir lesen eine andere. Texte reden in Zungen. Sie sind sind leere Hülsen der Gedanken, die wir nicht begreifen können. Sie sind Träume, die sich in unser waches Leben schleichen und es ist schwer, beide auseinanderzuhalten. Ein bisschen ist es so, wie es mit der Liebe ist. Ist in ihrem Fall die Illusion angebracht oder ein Pragmatismus, mit Bausparvertrag und Gütertrennung? Da gibt es Figuren, die an der Tür klingeln, und über die ich zu entscheiden habe, ob sie sich an meinen Tisch setzen dürfen, für ein kleines Schwätzchen. Das Lesen eines Textes ist ein heimtückisches, trügerisches, konstantes Flackern von gleichzeitiger An- und Abwesenheit jedweder gewisser Bedeutung.

Ein durchsichtiger Unsinn, der für Ehrlickeit durchgeht. Die Mauern zwischen dem Text und mir bestehen aus meinen falschen und missverstehenden Vorstellungen über Handlungsorte, falschen inneren Bildern dieser Orte. Personen, die aus dem Nebel dessen hervortreten, was die Autoren mit ihnen wohl gemeint haben könnten, ihnen zugeschrieben haben, mit inneren und äußeren Bildern. Bleiben sie figürlich oder werden sie zu realen Gästen meiner Lesestube?

Ich denke Lesen ist erst einmal ein einfaches so Dahinlesen. Historischer Hintergrund? Sitten, Moral und Gebräuche? Soziale Distinktionen? Politische Implikationen? Mode und ihre Erscheinungen? Ach was. Lesen ist ein intimer und privatimer Akt. Es ist Genuss, der sich einstellt oder auch nicht. Dabei gibt es Zwischenstufen, mit mehr oder weniger schlechtem Geschmack auf der Lesezunge. Wenn wir ein Buch wahrlich lieben, (seine Makel, seine Unreinheiten und Ungereimtheiten, das Schiefe), so zeugt das von einer zeitenthobenen Leidenschaft, die mich aus der Umlaufbahn der Aktualität reißt. Die keinen zu nahen Blick werfen will auf die Zeit seines Entstehens oder auf die Lebensumstände der Autoren. Lesen ist Sprezzatura, es ist der Versuch, das Schwierige mit natürlicher Leichtigkeit und ohne sichtbare Anstrengung zu tun.

Die Heisenbergsche Unschärferelation aus der Quantenmechanik besagt, dass es unmöglich ist, gleichzeitig die genaue Position und den genauen Impuls eines subatomaren Partikels zu bestimmen. Je genauer wir die Position messen, desto ungenauer wird die Messung des Impulses und umgekehrt. Dies führt zu einer fundamentalen Unschärfe in unseren Messungen auf subatomarer Ebene.

Wenn wir dies auf die Bedeutungsstrukturen eines Textes anwenden, können wir eine metaphorische Parallele ziehen. In einem Text können die Bedeutungen und Interpretationen ebenfalls unscharf und mehrdeutig sein. Wenn ein Autor bestimmte Elemente eines Romans bewusst vage oder mehrdeutig gestaltet, kann dies uns als Leser dazu veranlassen, unterschiedliche Interpretationen vorzunehmen. Darin besteht die Heimtücke der Worte.

Dann aber beginne ich meine Klauen in den Text zu schlagen. Verzweifelt ringe ich ihm eine Bedeutung ab. Seine Unschärfe führt dazu, dass ich mich unwohl fühle. Vielleicht denke ich, dass ich seiner offensichtlichen Bedeutung auf den Leim gehe, weil er zu offensichtlich ist. Den Impuls eines Wortes zu vermessen, zwingt dazu, andere Ebenen seiner Bedeutung und ihrer Orte außer Acht zu lassen. Das ist die Heimtücke des Textes und seiner Worte. Aber einem Text keine Bedeutung abringen zu wollen bedeutet, dass ich zugeben müsste, dass mein Lesen nichts anderes wäre als der mentale Akt der Tonaufnahme eines sinnlosen, weißen Rauschens.

Der Gödelsche Unvollständigkeitssatz besagt, dass in einem formalen, mathematischen System, das ausreichend komplex ist, immer Aussagen existieren, die innerhalb dieses Systems weder beweisbar noch widerlegbar sind. Diese Aussagen sind gewissermaßen “unentscheidbar” innerhalb des Systems.

Wenn ich diese Idee auf die Bedeutungsstrukturen eines Textes übertrage, könnte ich Parallelen ziehen. Ein Text ist ein komplexes semantisches System, das aus Sprache, Handlung, Charakteren und Bedeutungen besteht. Ähnlich wie in einem formalen System kann ein Text Aspekte enthalten, die für mich als Leser nicht eindeutig interpretierbar oder beweisbar sind.

Es können mehrdeutige oder symbolische Passagen auftauchen, bei denen die Intention des Autors nicht eindeutig festgelegt ist. Diese Unklarheiten lassen Raum für verschiedene Interpretationen und Deutungen. Ich kann unterschiedliche Perspektiven auf die Charaktere und die Handlung haben, und es gibt möglicherweise keine definitive Antwort darauf, wie der Autor bestimmte Elemente des Romans gemeint hat.

Wenn ich mich aber in den Texten verliere und mein Verstehen sich als Schwäche entpuppt, dann kommt ein Gefühl auf, wie man es hat, wenn man innerlich zugrunde geht und der Geist und die Ruinen seines verstehenden Vermögens auf der Intensivstation liegen. Der Text als Person, zu der ich durchdringen möchte. Zu einer Person, die man liebt. Man möchte ihr Gewalt antun, da man sie nicht versteht. Sie schütteln, all das. Wo bleibt da die soziale Kompetenz, die kommunikative Kompetenz? Die Empathie? Wo bleibt da der Sinn, an dem wir uns klammern müssen, da wir ihn, der Welt entreißend, so bitter nötig haben wie unseren Herzschlag. „Die Worte der Propheten oder der Poeten nehmen die Bedeutung an, die wir ihnen verleihen, und selbst ihre sprachlichen Unzulänglichkeiten sind erhaben“. (Zitiert aus George Eliot, Middlemarch)

Der Text ist ein wohlschmeckendes Bonbon im Mund oder ein Meter glatter Taft, zweimal so verlockend. Er erzeugt weitere sinnliche Versprechen, die nie vollständig eingelöst werden. Darum lesen wir weiter, immerzu, vom Ehrgeiz zerfressen, den eigenen Roman schreiben zu wollen. Und dieser Ehrgeiz ist verführerisch wie eine Mondsichel, die im Haus unserer Imagination den griesgrämigen Hausmeister gibt. Aber auch dies ergibt Sinn. Jeder Satz trägt in sich eine Wunde. Einen Verrat auch, der aus Unwissenheit über jene Gedanken entsteht, die in den Köpfen der Literaten ein Reich gegründet haben. Ein Reich, das wir nie betreten können und doch unser Leben ist.

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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8 Comments

  1. Lieber Achim,
    leben wir nicht in einer Zeit jenseits der Eindeutigkeiten und dessen, was die meisten Rezipienten sich als Sinn wünschen? Es herrscht die Mehrdeutigkeit, der Sinn liegt in der Dynamik vieler Sinne. Wenn der norwegische Autor Jan Kjærstad schreibt, ‘jedes verständliches Buch ist eine Lüge’ meint er dies wohl in diesem Sinn – huch, da ist er wieder der Sinn, dem man wohl nicht entkommen kann.
    Liebe Grüße vom Meer
    The Fab Four of Cley
    🙂 🙂 🙂 🙂

    • Lieber Klausbernd,

      Gerade in Zeiten wie diesen „strugglen“ wir alle bei der Bewahrung eines vorhandenen Sinngehalts für unser Leben, oder in der Suche nach Sinn. Der moralische Kompass dreht sich zu schnell und wir klammern uns, übereilt vielleicht, an jeden Grashalm eines plausiblen Sinns. In welche Richtung ein Griff danach uns bisweilen führt, sehen wir am massiven Aufkommen rechtsradikaler Tendenzen. Sinn war zu jedem Zeitpunkt der Geschichte eine Größe, die multivariabel war und ist. In Bezug auf Kjaerstads Zitat nicke ich zustimmend.

      Liebe Grüße aus Freiburg an die Fab Four
      Achim

    • hier ist es besser eingeordnet: Wozu und warum gibt es nicht, es passiert oder es passiert nicht. Meine Erfahrung war, dass es wie ein Dieb in der Nacht kam, ohne Vorwarnung und definitiv ohne die Frage warum.

    • Jugendwunsch, eigentlich bis heute 😊 Ich kenne meine Grenzen, nur mit dem sporadisch aufkommenden Stich des Neides habe ich bisweilen meine Probleme.

  2. Wozu und warum gibt es nicht, es passiert oder es passiert nicht. Meine Erfahrung war, dass es wie ein Dieb in der Nacht kam, ohne Vorwarnung und definitiv ohne die Frage warum.

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