Gedanken zu “Ulysses” von James Joyce 1

Das Puzzlespiel scheint bei Vielen meditative Wirkungen zu entfalten. Ich selbst geriet dabei immer sehr schnell an die Grenzen, die mir von der Ungeduld gesetzt worden sind. Mich dem Zusammenfügen der ausgestanzten Splitter eines Bildes zu widmen, erschien mir als oktroyierter Masochismus.
Obwohl ich es in anderen Lebensbereichen durchaus liebe, der Wandlung eines anfänglichen chaotischen Zustandes hin zu Struktur und Ordnung beizuwohnen. Ich nenne als Beispiele das Verfertigen meiner Steuererklärungen und das Ordnen meiner Bibliothek z.B. nach alphabetischer Reihenfolge.

Ich habe insofern den Glauben an Ordnungszusammenhänge nie aufgegeben. Den Glauben an den Attraktor, auf den sich ein dynamisches System im Zeitablauf zubewegt, und sich eine Ordnung aus dem chaotisch anmutenden Verhalten einer Anzahl von Variablen destillieren lässt. Variablen, deren Entwicklungen im Zeitablauf sich nicht immer vorhersagen lassen.

Es liegt nahe, den Aufbau des Ulysses als komplexe literarisierte Analogie zu den Merkmalen der Chaostheorie zu begreifen. Die drei Hauptprotagonisten Stephen Daedalus, Leopold Bloom und Molly Bloom als Variablen, die im dynamischen System ihrer mäandernden Gedankenströme das dynamische System der Stadt Dublin exemplifizieren, und die irdischen, überirdischen und unterirdischen Bedeutungsebenen von Personen und Sachen, irischer Geschichte, politischer Auseinandersetzungen, ökonomischer- und religiöser Betrachtungen, sowie das Spinnennetz von Verwandtschafts- und Bekanntschaftsverhältnissen aufleuchten lassen.

Ihre Gedanken, Vorstellungen und Ideen repräsentieren nicht nur die Netze der Synapsen ihres Hirns und dessen Motorik, Joyce vermag es, diesen Prozessen auch das jeweils adäquate sprachliche Äußerungssystem zu unterlegen.

Der Leser weiß nicht, wohin die Reise dieser Variablen (Protagonisten) geht und welche Zufälle im Zeitablauf und im Ereignishorizont eines Tages ihr Schicksal besiegeln werden. Und hier sind wir wieder bei der Chaostheorie angelangt, die eine Ordnung auch in unvorhersagbaren zeitlichen Entwicklungen dynamischer Systeme und deren Ausgangsbedingungen erkennt. Eine winzige Änderung in einem ansonsten anfänglich stabilen Systemzustand führt, wie wir alle wissen, zum Schmetterlingseffekt.

Meine Schwester und ich lassen uns weiterhin überraschen, wohin und zu welchem Zweck es die Protagonisten wohl verschlagen wird. Vielleicht ereilt uns am Ende als Lesende das verzückende Erlebnis einer Epiphanie, das Aufscheinen eines Sinns und die eine oder andere aufflackernde Bedeutungsebene. Über eines haben wir freilich absolute Gewissheit: Ulysses repräsentiert ein sogenanntes deterministisches Chaos, mit James Joyce höchstselbst als Determinator und Arrangeur seines Werkes. Auch wenn uns seine Erzählstimme abwesend erscheint, wie die Entfernung von Galaxien zueinander eine unverrückbare Tatsache ist.

Leopold Bloom – illustration © 2012 jpbohannon

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Achim Spengler
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Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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