Message from the quarantine 26

Das Spiel läuft auch andersherum: Wer zur Zeit die Einschränkung gewisser Grundrechte als tolerabel (innerhalb der Grenzen einer jeweils neu zu bestimmenden Verhältnismäßigkeit) erachtet und eine andere Güterabwägung präferiert, an den werden die Zuschreibungen Obrigkeitshörigkeit, Demokratiefeindlichkeit, Anhänger der Entmündigung, Mitläufertum etc. herangetragen.

Wir alle tragen nicht nur Verantwortung im persönlich-privaten Bereich. Unsere Verantwortung als Staatsbürger gegenüber den Institutionen des demokratischen Rechtsstaates kommt hinzu. Das Vertrauen in die verfassungsrechtlichen Grundlagen umfasst mehr als nur die Schutzwürdigkeit und die Einklagerechte unserer Grundrechte. Es sollte ebenso das Vertrauen in die Exekutive, die Legislative und vor allem die Jurisdiktion umfassen.

Verfassungsrechtler werfen einen Blick auf die Verhältnismäßigkeit der jeweils getroffenen Maßnahmen. Jeder dazu berechtigte Einzelne kann Verfassungsbeschwerde einlegen, kann Eilanträge bei den Verwaltungsgerichtshöfen einbringen, wenn es um die Versammlungsfreiheit geht.

Die Bundesjustizministerin spricht von ihrer behördlichen Pflicht, exekutive Entscheidungen auf Verhältnismäßigkeit, Verfassungsmäßigkeit und auf Entscheidungszuständigkeit zu prüfen. Darüberhinaus behält sie im Auge, wer wann und auf welcher Ermächtigungsgrundlage agiert.

Da gibt es sicherlich Grauzonen. Angesichts einer gänzlich aus dem Rahmen fallenden Gefahr und der Unerprobtheit des Instrumentariums zu ihrer Bekämpfung, sei den Organen Lernbereitschaft und Lernfähigkeit zugestanden. Auch das gehört zur Kategorie eines vorlaufenden Vertrauens.

Was wir erleben ist der Versuch eines möglichst konsensualen Diskurses in einer nach wie vor gefährlichen Situation, in der NIEMAND gesichert weiß, wohin die Reise geht. Wir erleben eine Bewährungsprobe der Verfassungsorgane, unseres solidarischen Gemeinwesens und des Einzelnen und seiner Bereitschaft, sich vorschneller Urteile in Stadien der Ungewissheit aufschiebend zu enthalten.

Der liberale Rechtstaat hat die Pflicht, die grundlegenden Bürgerrechte zu schützen. Das impliziert aber auch, dass der Verlust der Freiheit für einige niemals durch ein anderen zukommendes Gut zu rechtfertigen ist.

Und hier beginnt die Krux. Es gibt genuin erst einmal kein zu präferierendes Grundrecht. Ihre Gleichwertigkeit macht sich positiv deutlich dadurch, dass jeder ein jedes ihm zukommendes Grundrecht jederzeit einklagen kann. Ebenfalls gilt, dass jedes Grundrecht mit kollidierendem Verfassungsrecht – also insbesondere mit anderen Grundrechten – in einen „schonenden Ausgleich“ gebracht werden muss.

Kein Grundrecht ist also automatisch schützenswerter als alle anderen, sondern der Staat muss sie stets in einen schonenden Ausgleich bringen. Ich finde, dass es unsere Entscheidungsträger in diesem sensiblen Bereich des Ausgleichs recht gut machen. Das sollte durchaus zur Kenntnis genommen werden. Eine Billion Euro in die Hand zu nehmen, um die Wirtschaft, die Familien und den Einzelnen zu stützen, ist kein lässlicher Pappenstiel etcpp. Auch die Lockerung der Maßnahmen darf in diesem Zusammenhang gesehen und gewürdigt werden. Mit der Einschränkung, nicht gesichert wissen zu können, wo wir am Ende stehen.

Im Übrigen sollte man beachten, dass im aktuellen Fall die Entscheidungsträger zudem die Aufgabe haben, durch den Schutz aller, allen zukünftig, über die kommenden Wochen und Monate hinaus, das Einklagerecht von Grundrechten zu ermöglichen.

Mit diesen Ausführungen mögen sich vor allem diejenigen angesprochen fühlen, die meinen letzten Beitrag kommentierten. Ich möchte mich für diese Kommentare bedanken. Außerdem weise ich darauf hin, dass keine der Damen zu denen zu zählen ist, die ich im letzten Abschnitt jenes Beitrags umschrieben habe. Jenen also, die dabei sind, unseren funktionierenden Rechtsstaat zu desavouieren.

Stay healthy

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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11 Comments

  1. Genau wie du, lieber Achim, finde ich, dass die deutsche Regierung im Gegensatz zur englischen gut und sinnvoll agiert.
    Bleibe gesund und fröhlich.
    Liebe Grüße vom kleinen Dorf am großen Meer
    The Fab Four of Cley
    🙂 🙂 🙂 🙂

  2. Ein Spiel ist ein Spiel ist ein Spiel. Solange der Ball rollt, springt, tanzt oder Kegel wegkickt, bleibt die Spannung erhalten. Das Leben jedoch war noch nie ein Spiel, es ist spannendes Sein. In dem unsere ureigenen Bedürfnisse als die wichtigsten erscheinen. Was auch sonst? Die Krux schultern wir locker nebenbei. Bis sie uns den Nacken beugt, worin durchaus eine Chance liegt. Den eigenen Tanzboden sauber halten, so gilt die Devise seit jeher und nun eben deutliicher wahrnehmbar. Purzelbaumen können wir wieder auf staubfreien und geölten Dielen, jetzt ist es an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen. In vollem Bewußtsein, auch wenn wir lieber jetzt schon tanzen mögen. Im Grunde geht es ja, nur halt mit Pantoffeln über den Spitzenschühchen~~~

    Wertester, ich sende gute Wünsche in Ihre Quarantäne und verbleibe als die Ihre.

  3. Nein, es geht hier tatsächlich keineswegs um ein Spiel. Es geht hier viel eher darum, daß jeder und jede von uns seine oder ihre eigenen Ängste hegt.
    Man könnte versuchen oder sich jedenfalls darum bemühen, zu versuchen, die Ängste des oder der jeweils anderen ein Stück weit nachzuvollziehen und sich in den oder die andere hineinzuversetzen sofern und so weit es eben geht.
    Nehmen wir nun mal ein konkretes Beispiel: Manche von uns waren vielleicht früher selbst mal Opfer häuslicher Gewalt und denken und mit Schrecken und Grauen an all die Kinder und Frauen, die nun – 24 Stunden am Tag und über Wochen, vielleicht über Monate hinweg – ununterbrochen ihren Tätern ausgesetzt und in Gefahr sind. Die Frauenhäuser sind so voll wie noch nie, die Notrufnummern überlastet. Auch dies ist eine humanitäre Katastrophe, die sich derzeit ereignet – und nur eine von vielen. Oder denken wir mal an die vielen älteren und alten Menschen, die in Pflegeheimen leben müssen, nunmehr eingesperrt – auf unbestimmte Zeit – und nicht wissen, ob sie ihre Liebsten zu Lebzeiten noch wiedersehen werden. Vorhin traf ich eine Freundin, die in einem Caritas-Heim arbeitet.Und sie hatte so einiges zu erzählen, das mir die Tränen in die Augen trieb – und ihr ebenfalls. Auch diese menschlichen Katastrophen, die sich hierzulande (und natürlich nicht nur hier, sondern anderswo ebenso) ereignen, gilt es zu bedenken. Und nein, dies ist kein Spiel. Und, werte Frau Knobloch, um ein kleines Tänzchen hier und da und / oder um einen Ball geht es hier schon längst nicht mehr. Es geht hier nicht darum, daß wir ausgerechnet jetzt auf den Tischen tanzen wollen. So dumm und so egozentrisch ist, denke ich, keiner und keine von uns. Es geht hier um sehr viel mehr. Und es geht nicht nur um Leben und Tod sondern beispielsweise auch darum, wie man seinen Lebensabend verbringt – und auch darum, und ob das Letzte, das im Leben man sehen wird, das Gesicht eines geliebten Menschen oder das maskierte Gesichte einer anonymen Krankenschwester oder Pflegekraft sein wird. Und ob das Letzte, das man im Leben spürt, die Hand eines Angehörigen ist oder eben nicht. Und dies waren nur einige Beispiele. Es gibt eine Millionen andere Dinge, die es zu bedenken gilt. Und nein, ein kleines Tänzchen gehört nicht dazu.
    Liebe Grüße, Hannah

    • Liebe Hannah,
      der Begriff „Spiel“ im ersten Satz bezieht sich nicht auf ein eventuelles „Spiel des Lebens“. Es geht hier um das Ping Pong der gegenseitigen Vorhaltungen der Anhänger extremaler Haltungen und Meinungen. Es geht um Abwägung und Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen. Ein Blick auf Teilbereiche mag zulässig sein. Jedoch gibt es für jedes Beispiel, welches du in deinen Kommentare anführst, andere Beispiele oder auch Einwände, die mit der gleichen moralischen Berechtigung angeführt werden können, wenn es um die Rechtfertigung der getroffenen Maßnahmen geht. Die häusliche Gewalt mag zugenommen haben. Die Straßenkriminalität mag abgenommen haben. Die Anzahl der Verkehrstoten mag abgenommen haben. Viele Menschen, die auf Grund des Leistungsdrucks in der Arbeitswelt am Rande der Depression stehen oder schon lange mittendrin, haben die Chance, durchzuatmen und können Überlegungen anstellen, wie sie ihre Lebenswelt anders gestalten, um zu genesen. Häusliche Gewalt wird nicht dadurch abnehmen, wenn wir wieder zur Normalität zurückkehren. Diese Art der humanen Katastrophe wird sich nicht in Luft auflösen, wenn alles vorbei ist. Was ist schlimmer, als seine Liebsten nicht mehr zu sehen? Gewiss der Umstand, sie nie wieder sehen zu können, wenn sie dem Virus zum Opfer gefallen sind. Auch die Angst davor hat Ihre entsetzliche Berechtigung. Ich nehme alle Ängste sehr ernst. Aber die Fokussierung auf Teilbereiche der Angst lässt legitime Ängste in anderen Teilbereichen zwangsläufig außer Acht. Absolutforderungen in Zeiten einer solchen Krise sind fehl am Platz und wir alle sind aufgefordert zu erkennen, dass es immer nur um einen relativen Ausgleich der Bekämpfung aller menschlichen Ängste gehen kann, damit Gesellschaft funktionieren kann.

      Liebe Grüße
      Achim

      • So, nun ist meine Antwort an dich leider nicht unter deiner Antwort an mich, sondern unter meinem eigenen (letzten) Kommentar erschienen, lieber Achim.
        Eigentlich gehört sie aber unter deinen Kommentar … : )
        Liebe Grüße nochmals
        und einen schönen Abend, Hannah

  4. Und auch: all dies zu bedenken, werte Frau Knobloch, gehört dazu, wenn man davon spricht, Verantwortung zu übernehmen. Oder wenn man tatsächlich Verantwortung zu übernehmen gewillt ist.
    Und ja, all dies ist ein Dilemma. Und einfach ist es für keinen und für keine von uns. Keiner möchte seine Liebsten verlieren, keiner möchte sie allein und im Stich lassen, keiner möchte hören, wie das Kind des Nachbarn geschlagen wird (vor allem dann nicht, wenn man das als Kind am eigenen Leibe erfahren musste!)
    Es ist für niemanden von uns einfach. Und diese ganzen Themen sind überaus komplex. Und ja, es ist ein Dilemma. Und nein, keiner von uns hat hier ein Patentrezept und eine schnelle Lösung parat. Und ja, jeder und jede von uns hat seine oder ihre eigenen Ängste, seine oder ihre eigene Geschichte und seine oder ihre eigene Perspektive. Und die gilt es, zu respektieren. Und nein, dies ist kein Spiel…!
    So, und das war mein Wort zum Freitag… ; )
    Liebe Grüße, Hannah

    • Werte Frau Hannah,

      da Sie mich hier in mehreren Kommemtaren ansprechen oder erwähnen, aber nicht direkt auf meinen Kommentar antworten, schreibe ich Ihnen an dieser Stelle retoure.

      Wir kennen uns nicht, auch nicht silbenweise. Meine Sprache ist stets sehr bildreich, das kann natürlich zu Missverständnissen führen. Meine Worte hier bezogen sich auf Herrn Spenglers Gedanken und nirgendwo führte ich Tänze auf Tischen auf oder warf jemanden dumme Egozentrik vor. Genau das ist nämlich auch eine Buchstabenbalance, die Sie ebenso anführen: Die eigene Perspektive mit dem Blick hin zum anderen. Falls Ihnen mein Blick zu nahe kam, bitte ich um Verzeihung. Denn das lag nicht in meiner Absicht.

      Ich berichte an virtuellen Litfaßsäulen bewußt nicht von meinen Sorgen und Nöten, aber seien Sie gewiß, dass es einige sind. Wie Sie schreiben: Jeder hat seine eigene Geschichte. Meine Verantwortungen sind bewußt von mir gewählt, haben aber in der Kommentarspalte eines sehr wertgeschätzten Schreibfreundes nichts zu suchen. Wohl aber Wortpralinen und Silbenbonbons zur Augenergötzung bei all der Last.

      Freundliche Grüße in den Abend und passen Sie gut auf sich auf.
      Ihre Frau Knobloch

      • Liebe Käthe Knobloch,
        es tut mir sehr leid, wenn ich sie mißverstanden habe – und ich denke, ich hatte einen Teil dessen, was Sie geschrieben hatten, mißverstanden – und wenn mein heutiger Ton womöglich ein wenig gereizt klang. Es steht mir überhaupt nicht zu, solch einen gereizten Ton anzuschlagen und es steht mir auch nicht zu, mich in eine Konversation zwischen Ihnen und Achim einzumischen, der ich offensichtlich auch nicht ganz folgen konnte.
        Diese Themen und die (vielleicht phasenweise zu intensive) Beschäftigung mit diesen Themen löst in mir zuweilen eine mal leise, mal lautere Gereizheit aus… die mit mit dem, was Sie geschrieben hatten, nicht das Geringste zu tun hat. Bitte entschuldigen Sie nochmals meinen heutigen Ton –
        und haben Sie vielen Dank für Ihren heutigen Kommentar an mich.
        Ich wünsche Ihnen ebenfalls einen schönen Abend.
        Viele liebe Grüße, Hannah

        • Liebe Frau Hannah,

          es ist mit Sicherheit die beste unserer Möglichkeiten, dass wir uns verstehen können. Misstöne inklusive. Wie wir diese Töne bewerten, achten und neu benoten, dieses ist reine Menschlichkeit. In Zeiten, da die Nerven ohnehin sehr blank sich darbieten, müssen wir wohl alle unsere Sinne neu justieren.

          Ich danke Ihnen für Ihre Kommentare, auch ich wäge meine Worte nun neusichtlich ab.
          Gute Wünsche in die Nacht,
          Ihre Käthe Knobloch

  5. Lieber Achim,

    ja, das hatte ich schon richtig verstanden, daß es hier um das “Spiel” der gegenseitigen Vorhalten geht. Darauf bezog sich ja auch mein Kommentar.
    Er bezog sich aber in Teilen auch auf den Kommentar der Frau Knobloch.
    Ich denke, wir müssen uns einfach immer wieder darum bemühen, den oder die andere(n) und seine / ihre Perspektive(n) und Ängste zu verstehen.
    Das fällt uns allen zuweilen schwer. Und: die Ängste des oder der anderen lassen sich kaum bekämpfen und schon gar nicht wegdiskutieren, weil sie fast alle realistisch sind (und wenn auch nur für die Betroffenen selbst) und zwar sowohl die Ängste der einen als auch die Ängste der anderen …
    Aber nicht nur was die Maßnahmen anbelangt, sondern auch was die – eigenen – Ängste anbelangt muß man sich selbst immer wieder mal fragen: Ist diese Angst noch verhältnismäßig? Ist sie noch realistisch? Wie wahrscheinlich ist es denn, das genau das eintrifft, was mich jetzt so ängstigt? Und das gilt für uns alle. Wir alle müssen uns das von Zeit zu Zeit fragen, und zwar jeder sich selbst. Denn nur so läßt sich eine Angst einigermaßen in den Griff bekommen: indem man sie auf ihre Verhältnismäßigkeit hin befragt und überprüft. Immer wieder aufs Neue. Das waren jetzt einige Worte zur Psychologie der Ängste, das hatte jetzt nichts mit Politik zu tun oder mit der Frage, wie eine Gesellschaft funtionieren kann oder könnte oder damit, wie gut (oder schlecht) sie momentan funktioniert. Denn Letzteres würde hier jetzt ein bisschen zu weit führen… ; )
    Liebe Grüße, Hannah

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