Message from the quarantine 5

 

Der Klang der Kirchenglocken scheint greller, gewichtiger als sonst. Als wollten sie eine Botschaft transportieren, die weiter gefasst ist als die Aufforderung zum Besuch des Gottesdienstes. Während sie abklingen, versteckt sich die Sonne hinter den Wolken. Ein einzelner Glockenschlag bildet die Nachhut.

Früher erschien mir das Glockengeläut als schiere Lärmbelästigung. Die jetzige Zäsur offenbart, dass nur wenige Menschen sich zum Eingang der Kirche bewegen. Mir war es immer egal, welche Botschaft von der Kanzel herab verkündigt wurde. Als Kind war sie allenfalls einschläfernd. Als Jugendlicher empfand ich sie steif, inhaltslos, unbeholfen und uninspiriert. Ich halte sie auch jetzt noch in der Hauptsache als Ansammlung hohler Phrasen, weit hergeholt, aus der Zeit gefallen, ein Schrottplatz, auf dem die ausgeschlachteten Teile der Bibel je nach Grad der individuellen Bedürfnislage verschachert werden.

Vor allem Predigten bei Beerdigungen geliebter Menschen erinnere ich als das Schlimmste, was man dem Andenken an eine Person antun kann. Ein geliebtes Gedicht, eine unterstrichene Passage aus einem Roman, ein Musikstück, mehr hätte es nicht bedurft, um zu erfassen, was diese Person liebte und was sie sich ihrerseits als Zitat gewünscht hätte, damit die Hinterbliebenen an sie zurückdenken. Freude statt Trauer, Aufbruch statt Stillstand.

Und doch denke ich, wie schrecklich es jetzt für viele sein muss, tröstliche Worte in diesen Zeiten nicht mehr hören zu können, als die Schutzbedürftigen hinter schützenden Balustraden.

Das feierliche Reden davon, dass ein Vater sei, sein Sohn und ein Heiliger Geist. Ich kann diesen Ausbund einer verqueren Fiktion mit Wahrheitsanspruch inzwischen respektieren. Wir alle brauchen schließlich Narrative.

Das feierliche Sich-Versenken in ein Buch, in ein Hörbuch, in Musik oder in die Betrachtungen von Kunst und Malerei. All diese Formen menschlicher Kreativität bringen ebenso den notwendigen Trost und die Freude und die mannigfaltigen Formen mystischen Erlebens, die uns nicht immer in den Schoß der Kirche führen, aber immer über uns hinaus. In Bilderwelten, die uns inspirieren, aus denen wir eigene Bilderwelten schöpfen können.

Die für mich wichtige Frage: Was hätte Shakespeare aus den Evangelien gemacht? Sicherlich eine berauschende Geschichte, die uns nicht nur an unsere Sünden erinnert. Sondern einen Blick in unsere Seelen gewährt, die nicht nur verdammt sind. Die Freiheit in der Kunst, die ohne Korsett daherkommt, ohne Halfter, ohne die Zügel, die uns im Kreis führen.

Das Gemälde Die Jagd im Wald (das Original hängt im Ashmolean Museum in Oxford) des frühen Renaissance Malers Paolo Uccello ist ein Meisterwerk der perspektivischen Malerei. Die Komposition ist auf einen einzigen Fluchtpunkt in der Mitte ausgerichtet. Alle Figuren, Jagdhunde, Pferde, Jäger, sind wie in einen Sog geraten, der von diesem Fluchtpunkt ausgeht oder auf den sie alle hinstreben, sich vom Betrachter entfernen und so den Effekt einer Dreidimensionalität erzeugen. Der Blick des Betrachters verliert sich ganz zwangsläufig in der Ferne und der Dunkelheit in der Mitte der Komposition und es stellt sich die Frage, was in dieser Nacht, in diesem Wald denn gejagt wird? Und genau hier, mit dieser Frage, beginnt das metaphorische oder auch allegorische Spiel mit der Bedeutung dieses Gemäldes. Die Jagd als ein Streben nach etwas Unbekanntem, etwas Unerreichbarem?

Die Freiheitsgrade möglicher Interpretationen wächst mit der Anzahl der Betrachter. Ich denke, nur die Kunst/die Literatur können dies bewirken, kein praktizierender Glaube und kein religiöses System können dies in ähnlicher Weise in uns aufscheinen lassen. Nicht jeder Fluchtpunkt muss in Göttern kulminieren. Das wäre zu einfach und unsere Phantasie damit unterfordert. Welchen Fluchtpunkt hält die Pandemie für uns bereit?

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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7 Comments

  1. welchen fluchtpunkt hält die pandemie für uns bereit? – eine kernftage und aufforderung, vieles zu hinterfragen und neu zu denken … eine herkuleische arbeit …

    • Eine Arbeit, die von uns allen abgefordert sein wird. Wir haben, ich möchte nicht sagen eine historische, aber eine mindestens einmalige Chance, unser Leben neu auszurichten. Wenigstens das ist ein Licht am Ende des Tunnels.

      Liebe Grüße
      Achim

  2. Die Flucht zurück zu uns, zu unserem innersten Punkt. Das muss man tatsächlich erstmal aushalten können. Götterglauben ist ohnehin schon Fluchtgedanke an sich. Und entfernt uns immer weiter von dem eigenen göttlichen Funken. Jagen wir vielleicht um des Jagens Willen? Ich weiß es nicht. Aber Ihre Fragen, Wertester, bedingen neue Fragen.

    Ich praktiziere unverdrossen den Glauben an die Natur und lerne bestenfalls aus meinen Interpretationen. Freiheit ist dabei die meine. Allerdings verbunden mit der Fürsorge und der Hege.Und dem steten Lernen dabei.

    Kirchenglocken. Sie erscheinen auch hier deutlich wahrnehmbarer. Die überdröhnende Geräuschkulisse fehlt. Und ich wünsche mir, die Menschen hörten eindeutig, wie der Zilzalp singt…

    Ihnen alles Gute, Ihre Käthe Knobloch, weitersinnierend ohnehin zugetan.

    • Liebste Frau Knobloch,

      Das Zurückgeworfensein auf sich selbst ist nicht jeder*frau Sache, was ich nachempfinden kann. Aus dem Takt der Arbeit und der Bewegungsfreiheit sich verabschieden zu müssen kappt soziale Bindungen, auf die wir alle angewiesen sind. Jagen gehört zum Kernstück der Evolution, heute ist es sicher nur noch Jagen aus wettbewerblichen oder sportlichen oder forstwirtschaftlichen Zwecken. Fürsorge für den Nächsten, nicht nur aus freien Stücken, sondern auch der Verantwortung sich verpflichtet fühlend, brauchen wir in diesen Zeiten besonders. So manche werden verstärkt die Flucht in Gottes Arm antreten. Sollte der Spuk bald vorbei sein, werden sie ihn lobpreisen, obwohl nur wir es sind, die darüber mitentscheiden, wohin die Reise geht.

      Wie immer Ihnen zugeneigt und in der Hoffnung, dass Sie auf sich und Ihre Lieben aufpassen.

      Ihr

      A.

      • Lieber Achim,

        ich beobachte zunehmend eine verblüffende Freiheitsbeharrung, fast möchte ich Sie Benarrung nennen. Ob diese tatsächlich in dem Unfreiheitsgefühl wurzelt oder einfach nur dem modernen MachDeinDingModus gehorcht, ich kann es nicht beurteilen.

        Meine Lieben und ich, wir sind uns hingegen einig: Sicher in der Verantwortlichkeit bleiben und dabei mit freien Willen entscheiden, was zu tun nötig ist.

        Ihnen meine herzlichen Grüße, die Ihre Frau Knobloch, zurückgeworfensseingeübt zugetan.

        • Ich nehme an, dass damit eine Freiheit von Zwängen gemeint. Der Schutz der Gesundheit der Gesamtbevölkerung schränkt äußerliche Bewegungsfreiheit ein, aber aktuell nicht die Freiheit, die für mich wichtig ist: Gedankenfreiheit, aber auch die Grenzen meiner Freiheit, die im Anerkennen der Freiheit jedes Anderen respektiert. Die Freiheit, die viele jetzt vermissen, ist oft die unverantwortliche Ausübung purer hedonistischer, individueller Bespassungen.

          Herzlichst, wie immer gewogen.
          Ihr A.

          • Diese Freiheiten, die Sie benennen, sind ohnehin die wichtigsten und schwierigsten zugleich. Die muß man auch erstmal ausleben können. Die Narrenfreiheiten des Konsums und der Spaßgesellschaft, die sind jetzt natürlich eingeschränkt, beziehungsweise werden die noch weiter in die unendliche Weite des Zwischennetzes verlagert. Die Auseinandersetzung mit sich selbst rückt so noch weiter vom eigentlich Kernpunkt weg.

            Ihnen nochmals meine herzlichsten Grüße und passen Sie weiterhin gut auf sich auf.

            Ihre Käthe Knobloch

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