Melancholie – Melancholy

Edvard Munch - Melancholy
Edvard Munch – Melancholy

Autumn has come.  Und mit ihm die Jahreszeit, in der die Funktionstüchtigkeiten meines Muskelkorsetts und meiner Sehnen erschlaffen. Meine Blicke sind nicht mehr viril. Sie richten sich nicht mehr nach außen, auf Sonne etwa, oder Licht oder den ganzen Abglanz der körperlichen Reizkultur. Der Abschied vom Sommer doppelt meine Myopie. Sie wird ergänzt durch willentliche Kurzsichtigkeit, durch Reiz – und Triebabwehr und durch das bewußte Verschatten der Lust, sich die Welt durch reges Tun und mutwilliges Locken untertan zu machen. Es naht die Nachtblindheit am hellichten Tag. Es naht die Melancholie.

Man wird nun einwenden wollen, dass hier die bloßen Kräfte der Evolution am Werk seien, dass das Diktat der Gene und der Hormone sein seelenloses Spielchen treibe. Jedoch handelt es sich hier nicht um das Überfließen schwarzer Galle in mein Blut. Insofern verweise ich die Viersäftelehre in das Reich  antiker hippokratischer Fabeln. Ich behaupte, dass die Melancholie als historisch komplexe medizinisch-psychologische Begrifflichkeit nicht weiß, in welcher Art Dienst sie bei mir steht. Und damit einher geht, dass ich sie mir als Begriff lediglich ausleihe, um mein eigenes Süppchen ihrer Fassbarkeit, nach eigenem individuellen Rezept, zu kochen. Sie dient mir als Vehikel der Behauptung, dass sie fleischgewordenes Gefühl ist, ex motis, also aus einer Bewegung oder Erregung heraus erwachsen.  Und sie hilft mir dabei, mich von der Gretchenfrage zu lösen, ob ich männlichen Geschlechtes BIN oder nur Zeitzeuge kultureller Zuweisungen meiner Geschlechterrrolle als MANN. Ich mache es mir hübsch einfach und konstatiere: Ich bin MELANCHOLIKER nach Maßgabe dessen, für was meine männlichen oder weiblichen Anteile die Melancholie halten.

Sigmund Freud hat folgendermaßen versucht, die Melancholie in seinem Kaleidoskop der Psyche zu verorten:  “Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tiefe schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung der Strafe steigert.”  Und an diesem Punkt ist es an der Zeit, die Melancholie aus ihrem freudschen Spinnennetz zu befreien, in dem sie sich hoffnungslos verheddert hat. Sie sozusagen mit diametralen Symbolgehalten aufzuladen und für mich nutzbar zu machen.

Denn einen Nutzen hat sie für mich allemal. Weder steht sie bei mir in inzestiöser Nähe zur Depression, noch unter dem Verdacht der Nähe zur Niedergeschlagenheit. Sie ist nicht der Bärenschlaf im Winter. Auch der Lebenslust erweist sie keinen Bärendienst.  Sie ist all das, wonach im Herbst meine Sinne und Gefühle lauthals rufen: Sie rufen sie herbei als Okular und Brennglas, unter deren zugeschärften Blicken sich die Innenwelt der Außenwelt, und vice versa, auftun als das zu befahrende Meer der vorletzten Geheimnisse meiner  bescheidenen Existenz. Mit jedem Schritt aus dem Allgemeinen dieser Existenz hinaus hilft sie mir dabei, kein Ding nur unter dem Aspekt der Ewigkeit zu begreifen. Stattdessen nimmt sie mich an die Hand, um in fortwährenden Gesprächen mit mir selbst und anderen mich auszutauschen über individuelle Vorstellungen und gesellschaftliche Ziele.  Sie hilft mir dabei,  “Wittgensteins Sprachspiele” zu spielen, in denen “Alles” einen Sinn hat, sofern er nur konsensuell ist.. Das alles ist weit entfernt von Freud’s schmerzlicher Verstimmtheit, dem Verlust der Liebesfähigkeit und weit entfernt von der Hemmung jeder Art von Leistungsfähigkeit.

Michel Foucault sagte einmal, dass jeder Mensch ein Leben führe,  in dem er seine Welt unausgesetzt interpretiert. Ich interpretiere die Melancholie als psychische Instanz, die aus meinen Emotionen Gefühle macht. Gefühle, die sich aus geistigen Bewertungsprozessen zusammensetzen. Gefühle, die mir die Freiheit geben, Vorstellungen auszulösen, die so komplex sind, dass sie weder von der Psychologie, noch von der Hirnforschung wissenschaftlich dingfest gemacht werden können. Die Melancholie ist nicht der Feind der Sozialkompetenz und auch nicht das Menetekel, das drohend über kreativen Schaffensprozessen hängt  und sie zum Versiegen bringt.  Sie wurde einfach nur falsch interpretiert. In dunklen Monaten richtet sich mein Blick nach innen. Von einer Aufhebung des Interesses an der Außenwelt kann dabei aber keine Rede sein. Vielmehr erfährt die Welt dort draußen in mir den notwendigen subjektiven Anstrich: Interpretation. Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt. Im Konsens, wenn irgendmöglich, da man Pippi Langstrumpf Welten auch mal entwachsen muss.

 

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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6 Comments

  1. Lieber Achim, du kannst dir wahrscheinlich gar nicht vorstellen wie oft ich schon an dich im Zusammenhang mit der Melancholie gedacht habe. Ja, du hast schon einmal ein hohes Lied auf sie gesungen, es ist einige Jahre her. So hinterlässt einjeder und einejede Spuren in anderen, was nur gut so ist!
    Nun bin ich mir nur nicht sicher, ob du diesen Beitrag quasi neu aufgelegt, oder ob du neu gedacht/geschrieben hast.
    Herzliche Grüsse vom grauen Berg ins Tal,
    Ulli

    • Liebe Ulli,

      Du hast natürlich Recht. Es ist eine Neubewertung eines älteren Beitrags, den ich anschließend gelöscht habe, da er meiner jetzigen Einordnung nicht mehr ganz entsprach. Nun, das ist jetzt sehr überraschend, dass du mich mit der Melancholie per se in Verbindung bringst. Und ich nicht so recht weiß, ob ich mich darüber freuen darf. Ich hoffe doch, dass es noch andere Dinge oder Themen gibt, für die ich stehen darf 🙂

      Liebe Grüße hinauf zum Berg

      Achim

  2. Lieber Achim,

    Ich entschuldige mich jetzt schon mal für diesen langen Kommentar. Aber kürzen klappte einfach nicht…

    Herbst und Frühling sind Umstellungsjahreszeiten. Mit dem Älterwerden wird es für den Körper anstrengender, sich umzustellen. Alte Brüche, Muskeln und Gelenke schmerzen schneller, Wunden brauchen länger um zu heilen, die Kraft der Sonne schwindet, es wird Zeit, Vitamin D zu kaufen.
    Virile Blicke – was genau soll ich mir denn darunter vorstellen? Was ist das? Es gibt Hundertjährige, denen ich sofort virile Blicke unterstelle. Eine davon lebte neben mir. Niemals hätte ich gedacht, dass sie so schnell und lautlos sterben könnte.
    Mit diesen Leuchteaugen und all ihrer Lebensfreude. Das würde ich als viril bezeichnen.

    Du bist kurzsichtig? Puh, ich auch. Und weigere mich, eine Brille zu tragen, weil ich Kopfschmerzen davon bekomme. Brille trage ich nur, wenn ich Auto fahren muss (was der Himmel verhüten möge) oder beim Radeln. Weil ich ohne Sehhilfe ein Sicherheitsrisiko für andere bin. Manchmal erkenne ich ohne Brille einen Bekannten nicht. Und immer muss ich dann Erklärungen dafür suchen, dass ich mit meiner Kurzsichtigkeit leben gelernt habe.

    Wer immerfort nur rege tut, lockt kein Kaninchen aus dem Hut.
    Ein schönes Bild ist die nachtblinde Melancholia. Das ist bezaubernd.
    In meiner Familie gastiert die Schwermut schon seit Generationen.
    Mein Großvater war schwermütig, meine Mutter, ich bin es sowieso und meinem Sohn versuche ich gerade klarzumachen, dass Schwermut keine Krankheit ist.
    Dass man sie besser zu keiner werden lässt. Melancholie ist angeboren. Entweder man ist Melancholiker oder eben nicht. Entweder man hat ein distymes Naturell oder eben nicht. Jedenfalls ist sie ein Wiegengeschenk.

    Hat Sigmund Freud etwa so die Melancholie beschrieben? Was er da beschreibt, klingt eher pathologisch. ISoll Melancholie oder Schwermut denn pathologisch sein? Da lach ich ja direkt hysterisch. Bin ja eine Frau. Hysterie ist nämlich weiblich: die Hysterie. Darum können das nur Frauen kriegen. Auch Sigmund Freuds These…?
    Freud beschreibt eine mittelschwere bis schwere Depression. So liest es sich jedenfalls für mich…Und nein, auch ich empfinde Melancholie keineswegs als Lust- oder Lebenshemmer oder etwas, das (nur) niedergeschlagen macht. Sie kann deprimieren, ja. Aber nur, wenn der melancholische Mensch innerlich zu wenig gefestigt ist, um sie gut aushalten oder ihr auch etwas entgegensetzen zu können, wenn sie ihm gerade unangebracht erscheint.

    In Japan nennt man es „Mono no aware“. Es ist die Wehmut über die Vergänglichkeit aller Dinge und es ist wichtig, sich verabschieden zu können. Ein Freund erzählte mir, dass beim Kirschblüten-Hanami die Leute selbst gestaltete und schön verzierte Picknickkörbe zum gemeinsamen Treffen unter den Kirschbäumen mitbringen. Dann wird den ganzen Tag lang gefeiert, gegessen, getrunken, gelacht und gesungen.
    Diese kurze Kirschblüte, die nur wenige Tage im Jahr währt…
    Wenn man am Abend nach Hause geht, wirft man seinen schönen Picknickkorb auf den Boden und zertritt ihn.
    Um sich zu verabschieden von der schönen Zeit. Sie fordert nach einem Opfer, einem sichtbaren Beweis, dass sie vergangen ist. Das ist ein gutes Ritual, finde ich.
    Es sagt viel über das eigentliche Wesen der Melancholie aus.

    Melancholie beflügelt kreative Schaffensprozesse sogar. Weil sie die Gefühle dafür auslöst, die nötig sind, um in die Tiefe zu gehen, um das zu suchen, was unsichtbar in vergänglichen Momenten ruht.

    Nur mit den Pippi-Langstrumpf-Welten bin ich nicht bei Dir. Denn sie ist die Superheldin meiner Kindheit und das ist sie immer noch. Sie macht sich ihre Welt wie sie ihr gefällt. Ja. Doch liest man alle diese Geschichten ganz genau und aufmerksam, dann denkt man oft, dass Pippi auch einsam ist mit ihrem Papa, so weit weg in Takka-Tukka-Land. Und das gefällt ihr nämlich nicht, sie kann ihn eben nicht immer sehen wenn es ihr gefällt und eine Mutter hat sie nicht mehr – sie ist bei Pippis Geburt gestorben…. Eine Welt, wie sie ihr gefällt?.
    Stumm schwingt auch diese Botschaft im Buch mit und das zeigt ein so starkes Mädchen – weil es eben stark sein muss.
    Weil es nämlich alleine lebt und Verantwortung für sich selbst trägt. Papa kann nicht mal eben kommen und helfen, wenn die Villa brennt.
    Pippi Langstrumpf ist eine Melancholikerin.
    Und – wir brauchen Welten, in denen Menschen stark genug für sich selbst sein können…und keine Sündenbockwelten,
    wie wir sie jetzt haben…

    Wer sagte bloß zu den Erwachsenen „Verwachsene“?
    Es war nicht Pippi Langstrumpf…
    Hätte aber von ihr sein können…;-)

    Liebe Grüße,
    Amelie

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