Rockland – Die Erinnerung

 Ich kannte da einen mit einer Konsequenz der Lebensführung, die mich schaudern ließ und anzog zugleich. Der große, blauäugige, blonde Existenzialist, der sich als Geworfener sah, als postmoderner Märtyrer, an dem sich eine Vielzahl junger Frauen abarbeitete, um ihn einzuhegen, zu binden, an seinen Lippen hängend wie Verdurstende, um sprudelnden Wortfluss seiner Mundfaulheit zu entlocken. Sich ihm entzogen, bevor sie im Strudel seiner selbstauferlegten Lebensuntüchtigkeit untergingen. Was ich an ihm hasste und bewunderte zugleich: Derjenige, der wenig Worte macht, steht vor der eigenen, gar fremden Gerichtsbarkeit immer formidabel da, weil er sich aller Möglichkeiten eigenverantwortlicher Existenz leichthin entziehen kann, da dieser Umstand zu seiner existentialistischen Programmatik gehörte, wie auch die Alkoholsucht, mit der er sich, seiner selbst stets und unerschütterlich gewiss, zu Tode trank.

 

 

Unsere Wohngemeinschaft nannten wir Rockland. Berüchtigte Berühmtheit erlangte das Greystone Park Psychiatric Hospital in New Jersey im Poem Howl des amerikanischen Beat Generation Dichters Allen Ginsberg, in dem es mit dem Namen Rockland referenziert wird. Das Langgedicht ist dem Schriftsteller Carl Solomon gewidmet, den Ginsberg 1949 im Warteraum besagten Hospitals traf, nachdem er selbst wegen des Besitzes von gestohlenen Waren verhaftet und dort eingewiesen wurde.

Selbstverständlich hatten wir auch ein Motto: Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren! aus Dantes Göttlicher Komödie.

Jedoch stellten wir die Reise durch die jenseitige Welt unserer eigenen Commedia  gewissermaßen auf den Kopf. Unser Weg führte uns vom paradiesischen Garten Eden (mit allen seinen Zutaten, wie den Bäumen der Erkenntnis, ausgiebiger Nacktheit, schlängelnden Verführungen, Boskop-Äpfeln und immerwährender Scham) hinab ins Purgatorium, wo er auch schon endete.  Man bemerke, dass uns die Hölle erspart blieb. Ich selbst hätte gerne noch in ihr Station gemacht, nur um mich von dort direkt ins himmlische Paradies zu beamen. Ja, auch in das alle Himmelsphären übersteigende Empyreum hätte ich gerne mal hineingeschnuppert.

Jeder Soziologe, der sich mit den verschiedenen Modellansätzen der Gruppendynamik auseinandersetzt, hätte an uns, einer Clique von Studenten der Literaturwissenschaft im Mainz der ausgehenden 70er und der frühen 80er Jahre, seine helle, forschende Freude gehabt. Und hätte er Gelegenheit gehabt, unseren gruppendynamisch sich formenden Mikroorganismus in einer Petrischale zu kultivieren, er hätte von ihm Klone züchten können, um sie den Wissenschaftinstituten  des Psychosozialen zu vertickern, als Anschauungsobjekt der Geschichte vom Beginn und dem Abgesang einer sechsköpfigen gruppendynamischen Hydra und all ihren Zwischenformen auf engstem Raum.

Die Eigenschaften und Fähigkeiten einer Gruppe sind immer verschieden von der Summe der Eigenschaften und Fähigkeiten der handelnden Mitglieder dieser Gruppe. So weit, so Eulen nach Athen getragen. Wer sich einmal durch die Nomenklaturen, theoretischen Modelle und deskriptiven Verfahren zur Erfassung gruppendynamischer Phänomene quält, dem gehen die Augen über, angesichts des Fundus an gelebter Übereinstimmung mit diesen, mit dem wir damals, in der Filterblase selbstempfundener Grandiosität, hätten dienen können.

Wir hatten die Alphas und die Betas, die Gammas und die Omegas. Hegelianer, Anhänger der Dekonstruktion, eine Liebhaberin Theodor Fontanes Laienmarxisten, den William Faulkner Enthusiast, die gewürdigte Semesterarbeit über Benjamins Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Philosophen ex Cathedra, rhetorische Allzweckwaffen. Liebende und Entliebte, das symbolische Kapital von Fähigkeiten und Kompetenzen jedweder Couleur. Wir hatten Hierarchien des Wissens, Machtanhäufung durch Belesenheit und exorbitanter Gedächtnisleistungen. Wir hatten Liebesverdruss und Liebesdividende, Liebeslohn und Liebesgratifikation. Wir nahmen Außenstehende auf und grenzten rücksichtslos aus. Es gab den Koch, den Dope-Beschaffer und Arno Holz Belesenen, die Auftragsdiebe, die Verführer. Wir harmonierten, wir trotzten, wir exkulpierten. Wir schlossen aus und schlossen ins Herz. Wir spielten Wechselbäumchen in Sachen Liebe. Wir lebten nach dem Modell rangdynamischer Ordnungen.Wir lebten in Harmonie, in Abhängigkeiten, mit Kämpfen, Paarbildungen und Konsensbildung, mit Fluchterscheinungen und Entzauberung. Das waren wir und soviel mehr.

Auch der blauäugige blonde Existenzialist gehörte zu uns und ich gedenke seiner mit einem Schluck Single Malt.

Die Inseldiktatur des Herr der Fliegen blieb uns erspart und am Ende unserer Reise wurde jedem Einzelnen, vielleicht durch die Glücksfälle sich entwickelnder stabiler Paarbeziehungen bedingt, ein kathartischer Ausgang beschert.

Es war, trotz all der Verwerfungen und der desillusionierten Sehnsüchte nach inniger Gemeinschaft, ein grandioses Experiment im Kleinen. Ich wäre heute nicht der, der ich bin, würde nicht denken können, was ich denke, nicht lieben können, wie ich damals liebte. Die Bücher, die ich lese, ich würde sie nicht lesen ohne diese prägenden vier Jahre. Ohne diese Menschen hätte ich einen anderen Begriff von Mitmenschlichkeit. Ohne die starken Frauen, die ich lieben und schätzen lernen durfte, dürfte es mir heutzutage um vieles schwerer fallen zu behaupten, ein Feminist zu sein. Slainte.

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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7 Comments

  1. Neid ist eine Eigenschaft, die mir fast völlig ab geht, aber wenn ich das lese, bekomme ich das beklemmende Gefühl, etwas Entscheidendes in meinem Leben verpasst zu haben. Ich komme irgendwie 45 Jahre zu spät, obwohl ich schon fast alt genug bin, dabei gewesen sein zu können…

    • Wir haben letztlich auch etwas verpasst, damals. Ich nehme da einmal die 68er „Studentenrevolution“. Andererseits waren wir auch nicht so politisiert, dass wir auf die Straße gegangen wären. Wir hatten zu viel mit uns selbst zu tun. Alkohol spielte eine andere Rollt, im zu verhindern, dass es uns hinaus in die Kälte der Straßen geführt hätte. Und, es hing wie ein Menetekel über uns die „bleierne Zeit „, der deutsche Herbst.

  2. Ach so und was die Umbenennung deines Blogs betrifft; wenn du beim englischen bleiben möchtest, wie wäre es mit A Folly for my Mind?

  3. Augmented reality- erweiterte Realität

    Kam mir grad so in den Sinn.
    Prägende vier Jahre. Ja, Rockland und seine Bewohner – das liest sich sehr spannend und prägend; wenngleich ich meine aufgrund mangelnder Details entstandenen Wissenslücken mit meiner Phantasie auffüllen muss. Aber dann könnte Rockland ein lebendiges Buch werden. Macht Lust, mehr über diese Zeit zu erfahren,

    Sei lieb gegrüßt,

    Amélie

  4. Ganz ähnlich. ganz ganz ähnlich. Lange Mäntel waren Pflicht! Und Sartres “Ekel” lesen! Und Kerrouacs “On the road”. Bei uns im Osten kam noch Trouble um ein zu verbietendes Theaterstück der Studentenbühne hinzu; merkwürdige Ex-ungen, die dann doch kein richtiger Rausschmiss waren, sondern bedeuteten, dass derjenige 1 Semester Hochschulheizer war und dann ein Studienjahr tiefer wieder einsteigen konnte…Quasi Sitzenbleiben auf Hochschulebene.

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