Die wenige    Freiheit des vorgezogenen Ruhestands liegt im Erobern meines Balkons. Zum ersten Mal nach langer Zeit sitze ich am Abend beim dösenden Glimmen einer Kerze auf ihm und denke, am Gängelband der mir zuwachsenden Freiheit und der gleichzeitigen Emanzipation von ihr, über den Tonus der Stille nach, die sie mir bietet. Die mich plagenden Geräusche im Ohr sitzen schmollend in der stressfreien Zone und ich möchte Efeu wachsen lassen. Ein rankendes, giftiges Grün gegen die Hitze. Ein Grün gegen die Wunden, die dieser Tag geschlagen hat. Ein wucherndes Wunder, das diese Wunden nicht zu schließen vermag. Dann einen Schlummer über den Tag wirft und in die Nacht aufbricht, um ein Vergessen zu heucheln.
Das Hier und Jetzt ist das schlimmste Gefängnis, denn was würde einem Ausbruch daraus abverlangt werden? Alt bin ich, wenn man meiner Zukunft und dem Bedürfnis nach ihrer Gestaltung die Authentizität abspricht, mit dem ironischen Blick auf die Wünsche kleiner Träume.

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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8 Comments

  1. Lieber Achim,
    Efeu ist wie vieles giftige Grün in der richtigen Zubereitung und Dosis auch eine Arzneipflanze. Man könnte Efeu auch als Katharsis gegen Katarrhe der Atemwege bezeichnen, denn Efeu löst Schleim und Krämpfe. Für Mauerwerk kann der immergrüne Klettermaxe ein Fugensprenger sein: er dringt in jede Ritze mit Leben und sprengt sie auf. Alles mögliche Positive fiele mir noch zu Efeu ein, frei assoziierbar mit Leben und Sein. Die Stille ist ein Feind der Zeit und sie kommt stets in Frieden.
    Wie ich das kenne. Diese Bahnhofsgedanken, ewig Reisende, ohne Ziel, ohne Ankunft. Wie gut, dann ein im Abend kerzen glimmendes Efeuzimmer zu haben. Es kann ein Ort sein, für den Zeit Hausverbot bekommt.
    Bis selbst die Ohrgeräusche der Stille die Lanzen öffnen und sie passieren lassen.
    So etwas wünsche ich Dir.
    Sei lieb gegrüßt,
    Amélie

    • Ich genieße die zarten Triebe der Entschleunigung. Das Sitzen, sinnen, das Dösen. Wenn ich bedenke, welchen zeitstehlenden Tagesrhythmus mir die Arbeit abverlangte, wird mir schwindelig. In den nun kommenden längsten Sommerferien meines Lebens will die Unmenge Zeit, die mir zur Verfügung steht, aber sinnvoll genutzt werden. Meinen Balkon zu einem kleinen Pflanzenreich auszuschmücken, das ist bescheidenes Ziel, trotz des nicht vorhandenen Grünen Daumens. Jahreszeiten unempfindliche Pflanzen, Kletterpflanzen, Pflanzen aus der Kategorie Immergrün. Bin für jede Hilfe und Empfehlung dankbar :-). Liebe Grüße
      Achim

      • …die längsten Sommerferien Deines Lebens…
        Erinnerst Du Dich noch an das Gefühl aus dem Klassenzimmer in endlos erscheinende Sommerferien zu rennen…?
        Die Magie zu spüren wie Zeit sich auflöste als gäbe es nichts anderes als diese Tage, angefüllt mit Herumstromern, mit Dasein und Tagträumen bis nach Timbuktu.
        Ein Balkon lässt sich prima in ein kleines Naherholungsparadies verwandeln…auch ohne grünen Daumen. Hinter dem Daumen versteckt sich die Erdprüfung- genug Wasser im Pott? Blumen, Büsche und Bäume können nur stumm um Aufmerksamkeit bitten.
        Efeu ist pflegeleicht, doch ein Fugenfeind. Wieviel Platz hast du und in welcher Richtung hängt Dein Balkon? Davon hängt ab was Du für Pflanzen setzen kannst.
        Um empfehlen zu können, muss ich das vorher wissen. 🙂
        Ein bisschen offtopic…:.
        Fein, Deine heutige poetischphilosophische innenpolitische Pressekonferenz mit Regenduft. Das gefiel mir aber…
        Magst du mir verraten wie Dir der Beitragstitel in den Sinn geriet…?
        Sei lieb gegrüßt,
        Amélie

  2. Das Erobern meines Balkons ist mir in mehreren Jahren noch nicht gelungen. Jede Saison eine neue Pflanzenstrategie. Vielleicht ist der Balkon ja nur eine Metapher?

    • Mache mir keine Angst. Andererseits will ich meinen Balkon garnicht erobern. Ein paar Blumenkastenensembles, ein oder zwei Kletterpflanzen im Kübel. Das sollte erst einmal reichen. Ich überlege gerade, was du mit Metapher meinen könntest. Metapher für “du musst dein Leben ändern, also fange mal mit Balkonpflanzen an?”

  3. Liebe Amelie,

    Ich las einmal als junger Kerl während meines Studiums L’ÉCUME DES JOURS (Der Schaum der Tage) von Boris Vian. Auf deutsch, mein Schulfranzösisch war bereits etwas ausgefranzt. So genau kann ich nicht sagen, warum mir der Titel des Romans passend erschien als Titel meines Beitrags. Es hat alles seine Richtigkeit, wenn es ums Unterbewusste geht, nehme ich an.
    Mein Balkon bietet nur eine kleine Fläche, lasse es einmal knapp 4 Quadratmeter sein. Der Balkon geht nach Osten, die Sonne ist ab 12.30 Uhr bereits über dem Dach verschwunden. Den Efeu und den Clematis werde ich in mittelgrossen Kübeln pflanzen. Für den Efeu habe ich mir ein Rankgerüst besorgt, so kann er sich nicht an der Wand festsetzen. Der Clematis soll an Stöcken frei hochranken. Zwei Blumenkästen wollen noch winterfeste Pflanzen beherbergen. Kennst du da was?

    Liebe Grüße

    Achim

  4. Sich in scheinbar endlose Ferien hineinzubegeben ist etwas Wunderbares.
    Jeder Tag ein neuer, voller Überraschungen, kleiner Freuden, Sonne, Wind und Licht.
    Alles im Hier und Jetzt, alles Gegenwart.
    Den Wandel der Jahreszeiten auf einem kleinen Balkon zu erleben, zu betrachten, zu schauen, mitzuerleben und zu genießen….wie schön!
    Genießen wir das Leben – wir haben nur eines.
    Ein einziges.

    • Wir haben nur eines. Das ist die alles beherrschende Tatsache, an der wir mit unserer Lebensplanung, vor allem in der Rente, nicht vorbeikommen. Freiheit stößt auf Endlichkeit, aus diesem Verhältnis kann Spannendes hervorgehen, aber auch Lähmendes. Ich bin noch auf der Suche nach unverstellter Freude.

      Liebe Grüße und Danke für deinen Kommentar.

      Achim

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