Letzte Sätze 20 – Edna O’ Brien – Das einsame Haus –

Ich erlaube mir, die letzten Sätze von Romanen vorzustellen. Aus allen Epochen seit Anbeginn dieser modernen Erzählform. Romane, die meinen Literaturgeschmack prägten und prägen. Glückliche Romanenden, melancholische Enden, kontrafaktische Enden, bornierte Enden, fahrlässige Enden, Endzeiten, apokalyptische Enden, enträtselnde Enden und immer so weiter. Keine Epiloge, keine Nachrufe, keine fiktiven oder nonfiktiven Autorenkommentare zum zuvor Erzählten. Enden, basta. Höhepunkte des Erzählens, dort wo sie hingehören. An den Schluss.


Ich dachte, der Tod meiner Mutter würde mir mein Leben schenken, aber ich habe mich wohl geirrt. So wie der Soldat dachte, wenn er einem Engländer das Leben nimmt, könnte er jahrhundertelanges Unrecht sühnen, aber wie sollte das jemals möglich sein. Das Herz des Soldaten war voll von dunklen, gewalttätigen Gedanken, aber die Engländer haben uns gar kein Herz entgegengebracht. Als meine Mutter im Sterben lag, hat sie geschrien. Wenn wir Leben nehmen, schreien wir mit einer Stimme, wenn wir es verlieren, mit einer anderen. Zwei Akkorde, die sich treffen müssen. Wie oft habe ich ihr, als ich sie in einem der Zimmer vorm Spiegel oder beim Nägelpolieren gesehen habe, ihr Leben und ihre Schönheit mißgönnt, mir gewünscht, sie wäre tot. Jetzt ist sie tot und begraben, und der Soldat wird ein alter Mann sein, ehe er wieder über die Felder streifen kann.
Die Berge verändern des Nachts ihre Farbe, werden ernst und feierlich, so wie sich die Menschen verändern, wenn es ans Schießen geht. Dann wird alles bedroht. Dann wird alles zerstört. Der Schießende ebenso wie der Erschossene. “Der Mörder ist dem Ermordeten am nächsten.” Ein Jammern und Zähnekirschen aus naher und ferner Vergangenheit. Gräber und Hügel, immer mehr Gräber, eine Statue und eine gefärbte Nelke, um den Ort des jähen Blutbads zu bezeichnen. Das Land weint, und wen sollte das ändern? Aber das Land kann nicht genommen werden. Das hat die Geschichte bewiesen. Das Land wird niemals genommen werden. Es ist immer da. “Der Mörder ist dem Ermordeten am nächsten.” So steht es geschrieben. Aber jemandem körperlich oder im Kampf mit dem Bajonett nahe zu sein, das reicht nicht aus. Hineinzugehen, nach innen, das ist die blutigste Reise von allen. Erst dort lernen wir uns kennen, verstehen, daß aus dem Feind das gleiche Blut, die gleichen Tränen rinnen wie aus uns selbst, wenn auch nicht immer im gleichen Maße. Sich mitten ins Herz des Hasses und des Unrechts zu begeben, davon zu zehren und verzehrt zu werden. Das steht nirgends geschrieben. Das ist das zukünftige Wissen. Das Wissen, das noch kommen wird.

Edna O’Brien – Das einsame Haus

 

Aus dem Englischen
von Irmela Erckenbrecht

Verlag Hoffmann und Campe

ISBN 3-455-05722-5

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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2 Comments

  1. Dieser Absatz geht unter die Haut. Danke Achim für diesen Buchtipp, ich habe ihn notiert.
    Herzliche Sonntagsgrüße
    Ulli, nein, kein Schnee auf dem neuen Berg, aber auf dem Belchen 😉

  2. Liebe Ulli,

    es sind die letzten Sätze des Romans, der tatsächlich versucht ins “Herz des Hasses und des Unrechts” zu dringen, in einem Konflikt, der noch heute brodelt.

    Liebe Grüße hinauf zum zweiten Berg.

    Achim

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