Letzte Sätze 19 – Colm Tóibín – Marias Testament – The testament of Mary

Ich erlaube mir, die letzten Sätze von Romanen vorzustellen. Aus allen Epochen seit Anbeginn dieser modernen Erzählform. Romane, die meinen Literaturgeschmack prägten und prägen. Glückliche Romanenden, melancholische Enden, kontrafaktische Enden, bornierte Enden, fahrlässige Enden, Endzeiten, apokalyptische Enden, enträtselnde Enden und immer so weiter. Keine Epiloge, keine Nachrufe, keine fiktiven oder nonfiktiven Autorenkommentare zum zuvor Erzählten. Enden, basta. Höhepunkte des Erzählens, dort wo sie hingehören. An den Schluss.


“Ich war dort. Ich floh, bevor es vorbei war, aber wenn ihr Zeugen braucht, dann bin ich eine Zeugin, und wenn ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war. Das war es nicht wert. “

Doch ich gehe mit Farina zum anderen Tempel, und manchmal gehe ich auch allein hin, morgens gleich nach dem Aufstehen oder später, wenn Schatten über die Welt kommen und von der Nacht künden. Ich bewege mich leise. Ich spreche im Flüsterton zu ihr, der großen Göttin Artemis, die freigebig, mit ihren ausgestreckten Armen und den vielen Brüsten darauf wartet, jene zu nähren, die zu ihr kommen. Ich erzähle ihr, wie sehr ich mich jetzt danach sehne, in der trockenen Erde zu schlafen, mit geschlossenen Augen friedvoll zu Staub zu zerfallen, an einem Ort hier in der Nähe, wo es Bäume gibt. Bis es so weit ist, möchte ich, wenn ich nachts aufwache, mehr. Ich möchte, das, was geschah, wäre nicht geschehen, hätte einen anderen Verlauf genommen. Wie leicht hätte es nicht geschehen sein können! Wie leicht hätten wir verschont bleiben können! Es hätte nicht viel erfordert. Schon der Gedanke an dessen Möglichkeit tritt jetzt in meinen Körper wie eine neue Freiheit. Er lichtet die Dunkelheit und verscheucht den Kummer. Es ist so, als ob ein Reisender nach tagelangem Wandern durch eine trockene Wüste, einen Ort ohne jeglichen Schatten, erschöpft den Gipfel eines Hügels erreichte und unten eine Stadt sähe, einen Opal gefasst in Smaragd, voller Überfluss, eine Stadt voller Brunnen und Bäume, mit einem Marktplatz überreich an Fisch und Geflügel, den Früchten der Erde, einem Ort duftend von gegarten Speisen und Gewürzen.
Ich beginne einen sanft geneigten Pfad entlang darauf zuzugehen. Es ist so, als würde ich in diese seltsame Seelen-Stätte geführt werden, gewaltige schmale Brücken entlang über gurgelndem, dampfendem Wasser wie Lava im verlöschenden Schein, mit Inselwiesen voll lebendigen Wachstums. Ohne einen, der führte. Ringsum ist Schweigen und linderndes, schwindendes Licht. Es ist so, als hätte die Welt losgelassen; so wie eine Frau, die sich bettfertig macht und ihr Haar öffnet und herabhängen lässt. Und ich flüstere die Worte im Wissen, dass Worte zählen, und sage sie lächelnd zu den Schatten der Götter dieser Stätte, die in der Luft verweilen, um mich zu behüten und mich zu hören.

Colm Toibin – Marias Testament
Colm Tóibín - Marias Testament

Colm Tóibín – Marias Testament

Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
dtv Verlag
Lizenzausgabe mit Genehmigung des Carl Hanser Verlag
ISBN978-3-423-14460-5

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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7 Comments

    • Hallo Sonja, danke fürs Lesen anyway … Nach seiner Novelle hat Tóibín auch ein Theaterstück geschrieben. Die englische Schauspielerin Fiona Shaw trat in diesem in einer Inszenierung am Broadway auf. Zum Bewerb dieser Aufführungen entstand das obige Plakat.

      Gruss

      Achim

  1. “Es ist so, als hätte die Welt losgelassen; so wie eine Frau, die sich bettfertig macht und ihr Haar öffnet und herabhängen lässt.”

    Diese letzen Sätze sind es, die mir im Sinn bleiben, weil es so starke Bilder sind und weil die poetische Sprache von Colm Tóibín einen märchenhaften und eindringlichen Charakter hat. Das Bild “friedvoll zu Staub zu zerfallen” weigerte sich allerdings mein Leserhirn zu akzeptieren, bedingt durch meinen durch derartige Informationen geradezu auf Hochleistung getriggerten Altersfrohsinn.

    Maria hätte ein Testament gemacht? Was für eine überraschende und schöne Idee das doch wäre. Alleine mir das vorzustellen, tut mir schon gut und die Worte, die Colm Tóibín ihr in den Mund schenkt, könnten Mütter ermordeter Religionsstifter durchaus denken. Damit die biblische Antithese aller Weiblichkeit eine Würdigung erfahren würde, für die sie nicht fleckenlos rein sein müsste. In der sie menschlich sein dürfte, eine Frau, eine Mutter, eine Großmutter? Wie viel reicher wäre der christliche Glaube, dürfte dies so sein.
    Frommfaktenfernste Feenwünsche, ein hübscher kleiner Eskapismus, ach, ja…:-)

    Der letzte Satz hätte für mein Gusto ruhig der eingangs zu meinem Kommi zitierte sein dürfen. Das intime Bild der Frau am Bettrand -, ein genussvoll voyeuristisches Bild des Friedens und Behütetseins. Wo braucht’s denn da noch Götter…;-)

    Hab ein schönes Wochenende und viele Grüße von

    Stefanie

    • Dein Altersfrohsinn bleibt dir unbenommen :-). Aber wir sind ja auch noch jung, vergleichsweise, auch was unsere eigene Geschichte angeht. Dem Weiblichen in der Abfolge der durch männliche Stimmen dominierten Testamente eine eigene, fiktive Stimme zu geben, das ist Toibins großer Verdienst. Aber was ist denn schon faktisch, ungeschönt, dramaturgisch nicht aufgepeppt im großen Wirkungskreis der Bibel , nicht mit antiquiertem Marketing vorangetrieben, diese Geschichte des Einen Gottes und seines Sohnes. Die Mutter, der Vater, beide sind ja irdische Gespenster im überirdischem Schicksal ihres Sohnes. In Marias Testament gewinnt wieder das an Boden, was durch das herbeigeredete, wundersame übermenschliche Schicksal ihres Sohnes auf der Strecke geblieben ist, bis heute: Zweifel, Ängste, Feigheit, Todesangst, aber auch irdisch gelebte Liebe, Misstrauen, gesunder Menschenverstand, Mutterliebe. Es ist tröstlich zu sehen, wie fernab von Idolatrie ein Mensch sein Leben führt.

      Liebe Grüße

      Achim

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