Notate 19 – Hikikomori

Als Hikikomori bezeichnet das japanische Gesundheitsministerium

Menschen, die sich freiwillig in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer einschließen und den Kontakt zur Gesellschaft auf ein Minimum reduzieren. Der Begriff bezieht sich sowohl auf das soziologische Phänomen als auch auf die Betroffenen selbst, bei denen die Merkmale sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können.

Byung-Chul-Han verwendet den Begriff digitaler Hikikomori  als Nachschärfung eines anderen Begriffs, den des Homo digitalis. Der fingernde handlose Mensch der Zukunft ist kein handelnder Mensch mehr. Permanente Selbstoptimierung ist sein Ziel,  jemand zu sein sein Fetisch. Am Ende  ist er ein ungeschärftes Profil unter Millionen anderer. Er endet als Niemand. Bei Hannah Arendt galt das Handeln noch als Vermögen, einen Neuanfang, ein initium zu setzen. Insofern ist die Geburt die ontologische Bedingung für das Handeln, sie ist das Signum schlechthin für einen Neuanfang.
In den Wirbeln des Gleichzeitigen, in der Beugung des Raumzeitlichen zu einer  Endlosschleife des Gegenwärtigen, ist kein Neuanfang mehr möglich, obwohl er als Illusion in den erstarrten Hirnen der digitalen Hikikomori sekündlich spukt. Der Hass, die Denunziation, die Stigmatisierung und die verallgemeinernde Schuldzuweisung sind Ultima Ratio, um sich im digitalen weißen Rauschen Gehör zu verschaffen. Gleichzeitig richten sie die Waffe auf den Kopf der sachlichen Meinungsäußerung.  Das Ende des Handelns.

*

Es geht um selbstinduzierte Ohnmacht, um die Rachsucht der Ohnmächtigen, von der Nietzsche schrieb.  Je nach Umfang der kognitiven Dissonanz, die uns zum Ausruf eines Sündenbocks nötigt, zeigt der Schuld zuweisende Finger auf  die Politik, die Medien, die Flüchtlinge, auf die Emanzipation, den Gender Mainstream, die Nachrichtendienste. Es schießen Verschwörungstheorien ins  Kraut. Diese sind Folge der Sehnsucht nach Indizien, dass irgendetwas schiefgegangen ist. Sie sind die Sehnsucht nach  Erklärungen, möglichst verpackt in einem eigenen Narrativ. Sie sind der Reflex auf den vermuteten Verrat an Tatsacheninformationen durch den in Form von Werbejingles auftretenden Häppchenjournalismus. Am Ende eines hassdurchseuchten Diskurses wird die Paranoia stehen,  die zu den Waffen greift.

 

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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7 Comments

  1. Eine beängstigende Vision, die nicht mehr nur Vision ist, und doch hoffe ich noch immer, dass es genügend denkende Menschen gibt und immer geben wird…
    herzlichst, Ulli

  2. Lieber Achim,

    Im Kielwasser Deines Beitrags stieß ich bei meinen Recherchen zum Hikikomoribegriff auf diesen Artikel hier:

    http://www.spiegel.de/gesundheit/psychologie/hikikomori-wie-junge-japaner-das-leben-aussperren-a-1202103.html

    Hikikomori ist eine selbst gewählte Isolation von Menschen, die durch negative Erfahrungen geprägt, sich von der Welt isolieren und zurückziehen. Ich erschrak, dass allein in Japan in der Altersgruppe 14-39 rund 540.000 Menschen betroffen sind und darin einbezogen sind noch nicht die Dunkelziffer derer, die sich zu sehr schämen und deshalb im Verborgenen bleiben.
    Über dieses Thema möchte ich mich gerne noch mehr informieren, danke für den Anstoß.

    Nun leite ich über zum Thema Numero zwei, dem digitalen hikikomori. Setze ich voraus, dass ein digitaler hikikomori Ähnlichkeiten zum seines mündigen Denkens durch den Einfluss digitaler Medien enthobenen “homo Digitalis” aufweist, müsste ich voranstellen ,dass “hikokomori” allesamt Menschen sind, die sich ihrer Verantwortung für die Welt entheben ,indem sie sich ihr entziehen.

    Doch genau hier stoße ich mich, da ich mit “hikikomori” eher eine Art Krankheits- oder Störungsbild assoziiere und weniger eine Verbindung zu jemandem, der sich für die Welt und wie sie ist, kein bisschen in einer Verantwortung sieht, sondern einzig darauf bedacht ist, seine Darstellung und seinen Erfolg im Leben zu optimieren.

    Hikikomori wird es überall geben, auf der ganzen Welt. Die überzeichnete Darstellung dessen, wie oder was Menschen sein müssten um eine Anerkennung ihrer selbst zu bekommen durch die Medien, durch die familiären Prägungen alter Erziehungsmodelle, führt zu einem enormen Erwartungsdruck- nicht umsonst erleiden so viele Menschen einen Burnout oder erkranken an einer Depression.

    Ich weiß noch nicht genug, doch ich könnte wetten, dass hikikomori nicht immer freiwillig ihre Isolation zur Welt suchen. Ich finde, da macht es sich die Definition bei Tante Wiki ein wenig einfach. Manchmal fühlen sie sich vielleicht auch in diese Isolation hinein getrieben und betreiben sie als eine Art Selbstschutz – selbst wenn er ungewollt ist und sich einsam fühlt.

    Es lohnt sich, über den Begriff hikikomori nachzudenken und ihm nachzuspüren. Das werde ich tun und danke Dir für Deinen lesenswerten Beitrag.

    Liebe Grüße von der Fee

    • Es ist ja immer eine Gratwanderung, wenns um Zuschreibungen, um namentliche sowieso, geht. Das Auseinanderhalten von externen und internen Ursachen ist immer von Unschärfe begleitet. Was wir krankhaft nennen, nennen die von uns Titulierten als notwendige und normale Adaption an ihre Umwelt. Mich hat interessiert, dass es einen solchen Begriff in Japan gibt, in anderen Ländern keinen vergleichbar trennscharfen. Digitalisierung, auf die Spitze getrieben, könnte durchaus bedeuten, dass wir in Zukunft unser Haus nicht mehr verlassen. Welche konkreten Folgen das für unser soziales Zusammenleben bedeutet, ist leicht absehbar. Die Übernahme von Verantwortung für unsere Welt kommt ohne den analogen diskursiven Austausch zwischen Menschen nicht aus.

      • Ja, ich glaube, ich weiß schon, was Du meinst. Mir fiel ebenfalls auf, dass es diesen Begriff in einer vergleichbaren Form oder Eingrenzung eines speziellen Verhaltens so nicht in anderen Ländern gibt. Eine erschreckende Vorstellung, dass wir eines Tages die Häuser nicht mehr verlassen würden, weil wir durchdigitalisiert und gezielt vereinzelt werden bis zum letzten fremd gesteuerten Handgriff. Vor der Übernahme einer Verantwortung bedarf es der Ausprägung eines Bewusstseins für diese Verantwortung und der analoge Austausch erfordert ein Verlassen der digitalen Smarthousezone….
        Ein analoger Austausch verschwindet nicht im Off, sobald ich den Computer oder das Handy ausschalte. ..

        • Ich habe bisher nichts Ähnliches nachschlagen können, von dem man sagen könnte, dass es als Begriff mit dem der Hikikomori aufnehmen könnte.

  3. Mich erinnert das Ganze ein bisschen an die Menschen, die mit Silikonpuppen zusammenleben. Es ist ja prinzipiell nicht unähnlich, nur, dass es eben noch einen rudimentären Gesellschaftsersatz gibt.

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