Colm Tóibín – Nora Webster

Nora WebsterEs gibt Sätze, die sich der Welt enthalten, weil sie selbst eine Welt sind. Niemand ist verantwortlich für die ganze Welt, aber jeder dafür, wie seine Welt genesen kann, wenn sie in Trümmern liegt, verantwortlich ist dafür, dass sie Neues bereithält. So dass aus der genauen Betrachtung der individuellen Welt ein Verständnis entstehen kann für die Welt der irischen Provinz an der Südostküste, für die dortigen Kleinstädte wie Enniscorthy und  weiter  für die geschlagenen Wunden des irischen Unabhängigkeitskrieges. So entsteht auch Verständnis für den Katholizismus und den politischen Konservatismus und zuletzt, mit deren Übertretung, sogar ein Verständnis für die  ungeschriebenen Konventionen, nach denen eine Witwe in ihren Vierzigern sich zu verhalten hat. Es handelt sich dabei immer auch um ein überschreitendes Verständnis im moralischen Sinne, da es der Welt um Nora Webster anzudeuten vermag,  wie wiederum ein Verständnis ihr gegenüber  aussehen könnte.

“Jetzt suchte er sie wieder heim, sein Tod. Sie dachte an die, die da gewesen waren – Jim und Margaret, Schwester Thomas, die besondere Gebete gesprochen hatte, und der alte Pater Quaid. Die letzten zwei Tage lang war Nora nicht von seinem Bett gewichen. Aber er war schon weit von ihnen abgerückt gewesen, so weit, dass sie wie bloße Schatten gewesen sein mochten, für ihn schon Abhandengekommene. Vielleicht konnte er sie sich alle nur als unbestimmte Wesenheiten denken, die, die er geliebt hatte, doch Liebe zählte damals kaum, so wie der Nebel hier und jetzt bedeutete, dass die Trennlinie zwischen den Dingen kaum noch zählte.”

Wir lernen etwas über Trauer. Trauer, auf die sich fremde Blicke zu richten versuchen in einer Mischung aus wirklicher Sorge, Fluchtreflex, heuchlerischer Anteilnahme und  unverhohlenem Erstaunen über die konventionsresistente Kratzbürstigkeit der Romanheldin. In diesem Mischungsverhältnis treten diese Blicke immer auf und sie sind  graduell verschieden nur in ihren Ausgeprägtheiten, ihren Ungleichzeitigkeiten und den  emotionalen Näheverhältnissen zum obskuren Trauerobjekt ihrer Begierde. Aber wir sehen, dass Noras Trauer so tief in ihr verschlossen ist, dass sie kein reflektierender Spiegel sein kann für die Welt jenseits von ihr. Dass dorthin, wo die  Trauer Nora in ein Schweigen eingehüllt hat, das Verständnis der Anderen nicht folgen kann.

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Für Nora ist die Trauer identisch mit dem Stillstand aller Dinge.  Ihre Trauer ist identisch mit dem Ende allen Sehnens. Wenn es ein Sehnen gäbe, das sich lohnte, dann ist es die Sehnsucht nach einer Welt, die gekennzeichnet wäre durch Noras Herausgehobenheit aus dem familiären Gefüge und durch ihre Flucht vor den Zumutungen der kleinstädtischen Gesellschaft. Gekennzeichnet auch durch ihre Abwesenheit in einem Refugium  fortdauernder Stille und Ruhe. Ihre Trauer ist die instinktive Bindung an ein Nichts, weil nur die Vorstellung eines Nichts die Dimension ihres Verlusts auszudrücken in der Lage ist.

Die Fähigkeit zur Trauer ist der Gradmesser der Einzigartigkeit eines Menschen. Wir lernen, dass Trauer eine unverwechselbare  Stimme hat, die niemand hören kann. Wenn Trauer glückt, ist sie der Beginn eines emanzipatorischen Weges aus ihr selbst hinaus. Sie kann den Weg weisen zu einem von Konventionen unverstellten Blick auf das je eigene Dasein. Vielleicht müssen wir erst an ihr verzweifeln,  um den Zweifel an das mögliche Gelingen unseres Lebens abzulegen. Wie Phoenix entsteigt Nora Webster aus der Asche ihrer Trauer, jedoch ohne dessen flammend rote Pracht.  Stattdessen trägt sie ihr Haar mit neuem modischen Schnitt und lässt es sich rot färben. Ein Sakrileg in den Augen der Anderen, aber Teil der kleinen, behutsamen Schritte hin  zur  rigorosen Selbstbestimmtheit.

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“Aber bestimmt würde jemand, den sie kannte, sie sehen und ihr sein Mitgefühl aussprechen wollen. Die Worte waren leicht gesagt: “Es tut mir leid” oder “Es tut mir leid für Sie” oder “für dich”. Sie sagten alle das Gleiche, aber für die Entgegnung gab es keine feststehende Formel. “Ich weiß” oder “Danke” klangen kalt, fast hohl. Und dann standen sie da und sahen sie an, bis sie es nicht mehr erwarten konnte, von ihnen wegzukommen. Es hatte etwas Hungriges, wie sie ihre Hand hielten oder ihr in die Augen sahen.”

Es gibt Sätze, die kommen  mit einer welterklärerischen Attitüde daher,  nach der sich alles Erzählte zu fügen hat. Literarische Form und Inhalt sind insofern die Funktionen der autoritativen Gesinnung des Erzählers/Autors.  Und dann gibt es Sätze wie in Nora Webster, die sich einer geistigen Durchdringung der größeren  Welt  verweigern  und stattdessen eine Welt individueller Befindlichkeiten entstehen lassen, die gleichsam  in statu nascendi vor unsere Augen gestellt wird, und die das ganze emotionale und gedankliche Universum einer Person repräsentiert. Aktuelle Geschehnisse von Rang dienen dabei nur als akzidentielle  Kulisse des Erzählten. Jeder Satz muss zeigen, dass die Gründe seiner Existenz nicht der Neigung zur Welterklärung entspringen, sondern einer Poetologie des Zeigens, Aufweisens und Beschreibens. Jeder  Satz ist eine Prämisse, die sich aus den Sätzen davor und danach erklären lässt. Die Summe aller Prämissen  lassen gleichsam auf dem Weg einer Induktion ein Allgemeines aufscheinen. Eine pointillistische Stickerei, an deren Ende eine Existenz in all ihren Facetten aufleuchtet.
Diese Sätze SIND Nora,  sie entstammen ihrer Erzählstimme, die in indirekter Rede zu uns spricht und deren eingeschränkte erzählerische Perspektive auf das Außen das Spannungsverhältnis zur inneren Erfahrungswelt der Protagonistin am Brodeln hält.  Diese Sätze sind einfach und konzis und  je weniger sie dramatische Begebenheiten wiedergeben, desto heftiger treffen sie uns ins Herz.

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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5 Comments

  1. Oh, das ist fein. Du wirst es nicht bereuen. Das sage ich so leichthin, aber wissen kann man es erst, wenn mans gelesen hat. Gebe mir mal feedback, wenn du mit dem Buch fertig bist.

    Liebe Grüße aus Freiburg

    Achim

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