Letzte Sätze 18 – Donna Tartt – Der Distelfink (The Goldfinch)

Was immer uns lehrt, mit uns selbst zu sprechen, ist wichtig: was immer uns lehrt, uns singend aus der Verzweiflung zu lösen. Aber das Bild hat mich auch gelehrt, dass wir über die Zeit hinweg miteinander sprechen können. Und ich habe das Gefühl, ich habe dir etwas sehr Ernstes und Dringliches zu sagen, mein nicht existierender Leser, und ich glaube, ich sollte es so dringlich sagen, als stünde ich mit dir im selben Zimmer: dass das Leben – was immer es sonst sein mag – kurz ist. Dass das Schicksal grausam ist, aber vielleicht nicht beliebig. Dass die Natur (also der Tod) immer gewinnt, was aber nicht bedeutet, dass wir buckeln und um Gnade winseln müssen. Dass es, auch wenn wir nicht immer so froh sind, hier zu sein, unsere Aufgabe ist, trotzdem einzutauchen: geradewegs hindurchzuwaten, mitten durch die Jauchegrube, und dabei die Augen und Herz offen zu halten. Und inmitten unseres Sterbens, da wir uns aus dem Sumpf erheben und schmählich in den Sumpf zurücksinken, ist es herrlich und ein Privileg, das zu lieben, was der Tod nicht anrührt. Denn wenn Unheil und Katastrophe diesem Gemälde durch die Zeit gefolgt sind – so hat es auch die Liebe getan. Insofern, als es unsterblich ist (und das ist es), habe ich einen kleinen, leuchtenden, unabänderlichen Anteil an dieser Unsterblichkeit. Es existiert, und es wird weiter existieren. Und ich füge meine eigene Liebe der Geschichte der Menschen hinzu, die schöne Dinge geliebt und auf sie geachtet und sie aus dem Feuer gezogen und sie gesucht haben, als sie verloren waren, und die sich bemüht haben, sie zu erhalten und zu bewahren, während sie sie buchstäblich von Hand zu Hand weiterreichten, strahlend singend aus den Trümmern der Zeit zur nächsten Generation von Liebenden und zur nächsten.

 

Gebundene Ausgabe: 1024 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag (2014)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3442312396
ISBN-13:978-3442312399
Originaltitel: The Goldfinch
Übersetzt von: Rainer Schmidt und Kristian Lutze

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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13 Comments

    • Jede Seite ein Genuß …. dicht, berührend, spannend …. ein Plädoyer für die Freundschaft, die Trauer, den Kunstgenuß, die Liebe , das Leben …und das ist nur die Spitze des Eisbergs …..

    • Bitte lesen, ich bin sicher, du wirst es gerne lesen. Unter anderem eine der gelungensten “Liebesgeschichten” der zeitgenössischen literatur, ohne den Maßstab für eine gelungene Liebesgeschichte überhaupt anzulegen. Aber sieh selbst.

      Liebe Grüße

      Achim

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