Notate 12 – Ignoranz

Die Dame  mit schlohweißem Haar, viriles Auftreten, wie man es von Menschen kennt, die in sich ruhen. Oder anders, die in der Hege ihrer Interessen sich wendig bewegen, mit einer Betriebsamkeit, die nicht hektisch wirkt, mit einer Bedeutsamkeit, die der dem Lebensende sich nähernden Selbstgewissheit kein Gran von Unsicherheit mehr hinzuzufügen bereit ist. Sie sagt hier empfehlen sie drei Liter Flüssigkeit pro Tag. Alles falsch, Unsinn, der Körper meldet sich schon, wenn er Flüssigkeit benötigt. Ich frage mich, ob sie mit nicht mehr benötigen den freiwillig empfangenen Tod mitmeint.
Der Herr, schwergliedriger Körperbau, schneeweißes Haar, wuchernde Augenbrauen, die das kantige Gesicht umrahmen. Eine Attitüde, die von intellektuellem Leben Nachricht gibt (er liest das Feuilleton), immer wieder laut zitierend, etwas aus einer Buchkritik. Die Freude am Dilettantismus (er ist schließlich kein Prof. Dr.), sozusagen ein Geistesleben ohne philosophischen Anspruch, ohne Expertentum.
Beide ergehen sich in der grausamsten Ignoranz, derer Menschen fähig sind. So zu tun, als höre man hin, als höre man dem anderen zu, als interagiere man. Das ist die verwerflichste Art, mit sich allein zu sein. Eine Ignoranz, die ich immer schon assoziiert habe mit alternden Paaren, die an ihrer Zweisamkeit zugrundegehen.  Weil sie immerzu den Verdruss, die Langeweile, das Warten auf den Tod in das andere Gesicht hinüberspiegeln. Die Ignoranz ist die Kehrseite dessen, was man am anderen zu kennen glaubte, was man an an ihm schätzte und genoß. Sie ist Ausdruck der Überzeugung, dass nichts Neues mehr erwartbar sei. Dass das Zusammenleben nur noch der Vollzug der Gleichgültigkeit ist.

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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9 Comments

  1. Wenn auch ziemlich traurig deine Beobachtung und die Schlussfolgerungen daraus, freue ich mich darüber dass du sie niedergeschrieben hast!
    Liebe Grüße

    • Eine Beobachtung, eine schmerzvolle, weil ich natürlich auch eine Ahnung besitze davon, wie es anders sein könnte. Nur unter dieser Folie erscheint die Begegnung mit den alten Herrschaften so, als wären sie in einem Abgesang ihres Zusammenseins verfangen. Andererseits, was weiß ich schon wirklich von ihnen. Vielleicht hat mein grundsätzlicher Pessimismus in Beziehungsdingen die Richtung vorgegeben, und ich tue den Beiden bitterlich Unrecht.

      Liebe Grüße

      Achim

  2. Ich stelle es mir unangenehm vor, wie ein Wasserschlauch befüllt zu werden, obwohl ich gefühlt noch voll bin. Das muss wie Fluten sein.
    Vor allem unangenehm, wenn ich gezwungen werde, Kontrolle abzugeben. Gut, wenn ein Feuilleton in fortgeschrittenem Alter noch den Junggeist beflügelt. Denk ich ans alte Paar, gleich weiter an den Kästner und seine Einsamkeit zu zweit, die ich auch immer mal wieder erlebte. Im Wort Beziehung steckt das Ziehende. Könnte jetzt bewertet werden, will ich nicht, denn ich denke eher an das Ziehen eines Bandes, das aus gegenseitigem Interesse besteht. Ich möchte niemals so alt werden, dass mich kalt lässt, wenn ein Nahmensch leidet und sei es, dass seine Welt grad geflutet wird und er gezwungen, über die Grenzen seines Wollens zu treten. Im Feuilleton steht etwas Spannendes. Könnte sie das ablenken von der Krankenhaustristesse? Bin ich doch ein Mann und sehe ihren Stress und kann mir nicht einmal vorstellen wie jung sie aussähe, sagte ich zu ihr, dass sie ein artiges Mädchen sein soll und dass viel Wasser einen frischen Teint und die Gesundheit erhält.
    Doch das ist alles nur Spekulation und das was sein könnte, kann ich nur ahnen. Und alles könnte auch ganz anders sein.

    Feine Szene, stark beschrieben.

    Liebe Grüße,
    Stefanie

    • Ich war schon auf der Suche nach Anonymous, wo es doch da eine Hackergruppe gleichen Namens gibt, die sich zwar gewisser moralischer Beweggründe anheischig macht, aber man weiß ja nie 🙂

      Ich verstehe manches in deiner Replik nicht, kann daran liegen, dass wir aneinander vorbeireden. Mir ging es ausschließlich darum, dass beide Personen den anderen nicht mehr recht wahrnehmen (so meine Vermutung). Das kann aber auch ein Trugschluss gewesen sein, schließlich unterstelle ich ihnen, dass sie einander nicht mehr zuhören, sich gegenseitig mit einem lapidaren “ja,ja, hm,hm” abspeisen.

      Liebe Grüße

      Achim

      • Der Anonymous verwirrte mich selbst, fast genauso wie Moral, doch diese eher noch mehr.
        Bitte entschuldige, wenn ich mich zu unklar ausdrückte, es ging mir ( unter anderem) um die Hilflosigkeit, nicht zu wissen wie man dem anderen begegnen soll, wenn es ihm schlecht geht und dies Außenstehenden durchaus als mangelnde Anteilnahme oder Interesse am anderen erscheinen kann. Doch das ist eben nur eine weitere oder andere Auslegungsmöglichkeit der von Dir beobachteten Situation.

        Sicherlich ist es oft so, dass zwei zwar miteinander leben, doch reden dauernd nur noch aneinander vorbei oder bilden Zweckgemeinschaften, die mit einem am Partner gearteten Interesse außer mit dem, nicht allein leben zu wollen, nicht mehr viel zu tun haben. Diese Leute scheinen manchmal dennoch erstaunlich zufrieden mit dem was sie da jeder für sich nebeneinanderher vor sich hinleben. Und letztlich schaue ich jedem nur vor die ordentlich verklinkerte Fassade.
        Eben begegnete ich meiner in die Jahre gekommenen Hautärztin, als sie Händchen haltend mit ihrem Mathedoktor des Weges spazierte. So verliebt wie die beiden sich nach langer Ehe immer noch anschauen und unterhalten, könnte ich mir eine Szene wie die von Dir beschriebene zwischen ihnen nicht vorstellen.
        Ich weiß, dass solche Paare sicherlich die Ausnahme sind, doch es gibt sie und das tut gut zu sehen und macht Mut.

        Lieben Gruß,
        Stefanie

        • Sicher gibt es Paare, die, sagen wir, ganz gerne nebeneinander herleben. Trotzdem, aus den Bereichen gewisser Unabhängigkeit, sich immer wieder finden, sozusagen in der Mitte eines Tanzes, aufeinander zu- und wegbewegend, Mir fällt kein Name ein für einen solchen Tanz um eine Mitte, die das Zentrum einer großen Liebe sein kann.

          Lieben Gruß

          Achim

  3. …nur stünde in dieser Mitte nicht der betäubte Wille von Rilkes Panther und vielleicht wäre es eben so weil der Kreis nicht allerkleinst umeinander gedreht wird, sondern mit genügend Abstand, so dass eine Dimension gefühlter Gitterstäbe gar nicht erst entstünde zwischen zweien und dass am Ende nicht das Bild in die Erstarrung führt und im Herzen auf hört zu sein, , sondern ein bewegtes Bild bleiben kann und somit ein den anderen frei reflektierendes Bild. Das könnte im Optimalfall große Liebe sein.

    Jetzt habe ich mich krumm und schief um Deinen Tanz herumgeschrieben, vielleicht, weil es sich ebenfalls um einen Tanz aus Kraft und Balance handelt.
    Schönen Sonntag für Dich,

    Stefanie

  4. Vor dem, was du da beschreibst, fürchte ich mich. Nicht nur in einer Partnerschaft, sondern auch, was die Beziehungen zu meinen Geschwistern und Freunden, zu Menschen überhaupt, angeht. Irgendwann so sehr um sich selbst zu kreisen, dass man für andere nur noch Interesselosigkeit empfindet, seinem Gegenüber nicht mehr richtig zuhören zu können, es gar nicht mehr als eigenständigen Menschen wahrzunehmen, sondern nur noch durch seine eigene Brille zu sehen.

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