Letzte Sätze 13 – Thomas Wolfe – Schau heimwärts, Engel

Er stand nackt und allein im Dunkeln, weit weg von der verlorenen Welt der Straßen und der Gesichter; er stand auf den Wällen seiner Seele, vor dem verlorenen Land seines Selbst; hörte landeinwärts das Murmeln verlorener Meere, fernen Hörnerschall in der Tiefe. Die letzte Reise, die längste, die beste.
O flüchtiger und unfassbarer Faun, im Dickicht meines Innern verloren, ich will dich hetzen, bis du aufhörst, meine Augen mit Hunger heimzusuchen. Ich habe deine Schritte in der Wüste vernommen, ich habe deinen Schatten in begrabenen alten Städten gesehen, ich habe dein Lachen durch Millionen von Straßen hallen gehört, aber ich habe dich dort nicht gefunden. Und kein Blatt hängt für mich im Wald; ich werde keinen Stein in den Bergen heben; ich werde in keiner Stadt eine Tür finden. Aber in der Stadt meines Selbst, auf dem Kontinent meiner Seele, werde ich die vergessene Sprache finden, die verlorene Welt, eine Tür, durch die ich gehen kann, und Musik so seltsam, wie sie nur je erklang; ich werde dich hetzen, Geist, auf den labyrinthischen Wegen, bis – bis? O Ben, mein Geist, eine Antwort?
Doch während er sprach, rollten die Geisterjahre ihre Offenbarung ein, und nur noch Bens Augen glühen schrecklich im Dunkeln, ohne Antwort.
Und der Tag erschien und das Lied der erwachenden Vögel und der Platz, in das zarte, perlgraue Licht des Morgens getaucht. Und ein Wind säuselte über den Platz, und Ben, wie ein Räuchlein, verschwamm vor seinen Augen im Morgengrauen.
Und die Engel auf Gants Veranda erstarrten zu hartem Marmorschweigen, und in der Ferne erwachte das Leben, und schmale Räder ratterten, und langsam klapperten Hufe. Und er hörte das klagende Pfeifen am Fluss.
Doch als er nun zum letzten Mal neben den Engeln auf seines Vaters Veranda stand, schien es, als wäre der Platz schon weit entfernt und verloren; oder vielleicht sollte ich sagen, er glich einem Mann, der auf einem Hügel steht über der Stadt, die er verlassen hat, jedoch nicht sagt: “Die Stadt ist nah”, sondern seine Augen emporhebt zu den in weiter Ferne aufragenden Gebirgszügen.

(aus: Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel – Look Homeward, Angel)

Schau heimwärts, Engel

Taschenbuch: 784 Seiten
Verlag: btb Verlag (11. Juli 2011)
Übersetzerin: Irma Wehrli
ISBN-10: 3442742552
ISBN-13: 978-3442742554
Originaltitel: Look homeward, Angel

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Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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5 Comments

  1. Dem kann ich mich nur anschliessen. Einfach beeindruckend und schön. Am Ende entfährt dem Leser ein Seufzer aus dem tiefsten Inneren.

  2. danke Achim, das Buch steht jetzt auf meiner Wunschliste!
    herzlichst Ulli
    ich hab an dich in der Bretagne gedacht, an dich und an deine Bilder von langen, menschenleeren Sandstränden, als ich auf solchen wandelte …

  3. Großartig.
    “Zum letzten Mal auf der Veranda des Vaters stehend….”
    Das habe ich selbst auch erlebt.
    Absolut gänsehauterzeugend beschrieben..
    LG von Rosie

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