Letzte Sätze 11- Wallace Stegner – Vor der Stille der Sturm

Du hast dich gefragt, was in der Walmilch enthalten ist. Jetzt weißt du’s. Denk an die Kraft dort unten, die den Dingen befiehlt, zur Welt zu kommen, zu leben, weiter nichts.
Damals konnte ich ihr das nicht beantworten. Jetzt vielleicht. Ja, denk an diese Kraft, könnte ich sagen. Denk daran, wie willkürlich und blind sie ist, denk daran, mit welcher Ohnmacht wir ihr ausgeliefert sind, wie unmöglich es ist, sie zu beherrschen und zu lenken. Denk daran, wie oft das Schöne und das Zarte vom Unkraut erstickt werden. Denk daran, wie endlos und wie fragwürdig das Fortschreiten vom Unkraut zur Blume ist.
Selbst als sie noch lebte, konnte sie mich nicht von ihrem Glauben an die biologische Vervollkommnung überzeugen. Sie hat mich nicht dazu gebracht, das Böse zu ignorieren oder als den schwierigen Teil des Schönen und Guten zu verstehen – das Böse, das mir in jedem Schädling, jeder Krankheit und Plage meines Gartens begegnete, das wie eine dicke Kröte auf meinem Herzen saß. Denk an die Kräfte des Lebens, ja, aber vergiss nicht die dunkle Seite. Ebenfalls in der Walmilch enthalten ist die Gewissheit von Leiden und Tod. Und nun? Nachdem das Offensichtliche konstatiert ist, was nun? Würde ich Marian Catlin aus meinem unvervollkommneten Bewußtsein auslöschen, wenn ich könnte? Würde ich auf das Glück ihrer Gesellschaft verzichten, um mir die Trauer um ihren Verlust zu ersparen? Würde ich zurückkehren zu meinem alten Dämmerschlaf, um den Schmerz zu vermeiden, der damit einhergeht?
Keine Sekunde! Und so bekenne ich, wenn auch zähneknirschend, dass ich bekehrt bin. Für mich ist wahr geworden, was ich ihr einmal für ihre Tochter prophezeite. Dieser Kummer macht mich für mein ganzes Leben reicher.

Vor der Stille der Sturm - Wallace Stegner

dtv premium
Aus dem Englischen von Chris Hirte
Deutsche Erstausgabe
360 Seiten
ISBN 978-3-423-24898-3
Dezember 2011
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
> All  The Little Live Things <

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

Articles: 604

10 Comments

    • Ein wunderbarer Roman, sehr empfehlenswert. Wallace Stegner ist auch ein großer Meister der Melancholie. Das sollte man eigentlich nicht glauben, wenn man seine Pilotenlaufbahn bei der US Air Force in Rechnung stellt.

  1. Schön, bei jemanden anderen auch Wallace Stegner zu finden. Ein ganz ruhiger Schriftsteller – eine ruhige Sprache, voller Kraft. Wohl aber auch eine Art Geheimtipp…kenne wenige, denen sein Name etwas sagt.

    • Leider kennen ihn wirklich nur sehr wenige, zumindest in meinem Umkreis. Wenn ich mir so überlege, für was alles die Werbetrommel gerührt wird, so bleibt ein bitterer Nachgeschmack bei Stegener, den auch das Feuilleton nicht im Focus hatte.

      • Wahrscheinlich, weil er eben einer war, der nicht zur “Selbstvermarktung” neigte – so stelle ich ihn mir zumindest vor nach dem, was ich über ihn gelesen habe.

  2. Nein, diesen großartigen Autor kannte ich noch nicht und vielen Dank…stark, wunderbar zu lesen.
    Ich habe Tante Gugel nach ihm gefragt, mir einen ersten kleinen Werk-Überblick verschafft. Pulitzerpreis…😊

    Ich möchte gern noch mehr von ihm lesen.

    Liebe Grüße
    von der Karfunkelfee

Hinterlasse mir gerne einen Kommentar

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.

Translate »

Discover more from A Readmill of my mind

Subscribe now to keep reading and get access to the full archive.

Continue reading