Letzte Sätze 10 – Julian Barnes – Vom Ende einer Geschichte

Julian Barnes - Vom-ende-einer-Geschichte
Julian Barnes – Vom-ende-einer-Geschichte

“Du kommst ans Ende des Lebens – nein, nicht des Lebens an sich, sondern von etwas anderem: das Ende jeder Wahrscheinlichkeit einer Änderung in diesem Leben. Du darfst lange innehalten, lange genug, um die Frage zu stellen: Was habe ich sonst noch falsch gemacht? Ich dachte an eine Gruppe junger Leute auf dem Trafalgar Square. Ich dachte an eine junge Frau, die einmal im Leben tanzte. Ich dachte an das, was ich jetzt nicht wissen und verstehen konnte, an alles, was niemals gewusst oder verstanden werden konnte. Ich dachte an Adrians Definition von Geschichte. Ich dachte an seinen Sohn, der das Gesicht in ein Regal mit extraweichem Toilettenpapier drückte, um mir zu entgehen. Ich dachte an eine Frau, die unbekümmert und unachtsam Spiegeleier briet und sich nicht daran störte, dass eins davon in der Pfanne zerlief; dann an dieselbe Frau, später, die unter einer sonnenbeschienenen Glyzinie eine verstohlene, waagerechte Geste machte. Und ich dachte an eine anbrandende, mondbeschienene Welle, die vorüberrollte und stromaufwärts verschwand, von einer Bande johlender Studenten verfolgt, deren Taschenlampenstrahlen sich im Dunkeln kreuzten.
Das ist Akkumulation. Das ist Verantwortung. Und drüber hinaus herrscht Unruhe. Es herrscht große Unruhe.”

Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte
Verlag Kiepenheuer & Witsch
Titel der Originalausgabe: The Sense of an Ending
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger
ISBN: 978-3-462-04433-1
Erschienen am: 01.12.2011


Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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8 Comments

  1. es öffnen sich Universen- die letzten Sätze machen sehr neugierig auf die vorangegangenen-
    hier musste ich schmunzeln: Was habe ich sonst noch falsch gemacht?

    herzlich grüsse ich dich

    • Ein sehr guter Roman, der mir sehr viell freude bereitet hat. In ihm klingt eine Melange von Melancholie, Erinnerungsaufforderung an, mit einer fast sachlich zu nennenden Bereitschaft, allen Charakteren gerecht werden zu wollen. Auch dem Ich-Erzähler selbst.

      Liebe Grüße hinauf zum Berg

      Achim

    • Es gefiel mir sehr gut, zumal ich ein erklärter Fan von Julian Barnes bin. Ich liebe das englische “Understatement” seiner Schreibe. Ernsthaft, gerecht, fast schon bescheiden.

      Liebe Grüße

      Achim

  2. Ein wunderbarer Tipp von Dir, Bruderherz. Hatte mir das Buch von Astrid geliehen und spätestens nach diesem Satz hatte er mich: “Geschichte ist die Gewissheit, die dort entsteht, wo die Unvollkommenheiten der Erinnerung auf die Unzulänglichkeiten der Dokumentation treffen.” Eine Aussage, die mich bis zum Schluss verfolgte! Nun bin ich gespannt auf andere Werke!
    Dagmar

    • Der Mann hat was, richtig. Von ihm habe ich noch andere Bücher gelesen, zum Beispiel den Erzählband “Unbefugtes Betreten”, den ich allerdings ein wenig sperrig empfand. Dann noch den Roman “Arthur & George” , in dem der historische Arthur Conan Doyle eine fiktive Detektivarbeit (ganz nach seinem eigenen Helden Sherlock Holmes) zugunsten eines zu Unrecht Verdächtigten indischer Herkunft übernimmt. Empfehlenswert.

      Liebe Grüße

      Achim

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