Welcome to my blog
Der Tag des Kusses

Ich war überzeugt, dass zwischenmenschliche Harmonie nur in sinnesreizfreien Räumen des Autismus möglich sei. Das Flaschendrehen gehörte nicht zum Identitätsbaukasten meines Selbsts. Auf dessen Klaviatur werkelte ich ohne Sinn. Mein Ziel war der Zustand ewiger Selbstzufriedenheit im Kokon. In meinem mesolimbischen System herrschte biblische Ödnis. Ich hatte kein Konzept von Kommunikation. Kommunikation war die Leerstelle weißer Wände, die stets mit der Farbe Weiß überstrichen wurden. Meine Emotionen wurden nie enttäuscht. Auch dann nicht, wenn ich aufgefordert war, ihre mögliche Befriedigung zu entziffern und doch nur im Orbit von Mutmaßungen steckenblieb. Mädchen waren weiße Leinwände, zu denen mir die Farben fehlten. Charme war ein Stottern. Ich erfand Worte für den Kuss, der, wenn ich hätte hinsehen können, mir nur in Filmen begegnete. Worte, die das Kontrafaktische des Kusses, die Abwesenheit jedweder Berührung wie eine Monstranz vor sich hertrugen. Noch heute ertrage ich Küsse in den Filmen kaum.
Ich war der melancholische Teenager, der in pubertären Seilen hing. Der durch die stumme Faktizität des Weiblichen auf Auslösung hoffte. Ich wollte meinem Geschlecht zugeschrieben werden, wollte jenes Brandmal auf den Lippen brennen spüren. Emotion, ex motis. Den Namen des Mädchens habe ich vergessen. Was schade ist, weil es dieser Winter war, in dem ich liebte. Ich erinnere die Hitze ihres Kusses. Erinnere die Sensation des virulenten Spiels von Zungen im Frost. Ich erinnere den unverträglichen Alkoholgenuss und den potenzierten Geschmack, den Mundinnenräume erzeugen. Sie hat meine durch die Begriffe Geist und Vernunft und Tatkraft fiktionalisierte Männlichkeit marginalisiert. Sie war winzig, stahl meiner Zugbrücke die Ketten. “Wozu sollen solche Gesellen wie ich zwischem Himmel und Erde herumkriechen? Wir sind ausgemachte Schurken, all: trau keinem von uns! Geh deines Weges zum Kloster!” Aber Ophelia scherte sich nicht darum. Sie brachte Couleur ins Spiel. Das Blitzen und Blenden. Das Feuerwerk, den Initiationsritus in allen kolportierten Farben. Vor dem Hintergrund ihres weißen Mundes und des Schnees.
Schöner als Edvard Munch hat für mich keiner je einen Kuss dargestellt und es ist interessant zu lesen, welche Erinnerungen am Tag des Kusses bei Dir aufkommen, schöne Kussbilder – romantisch im Bild und männlich-nüchtern in den Worten…
Beste Grüße und einen schönen Sonntag,
Marlis
So männlich-nüchtern solle es garnicht rüberkommen 🙂
Vielen Dank für deinen Kommentar, und ja, auch ich empfinde dieses Bild von Edvard Munch als eines der schönsten Bilder vom Kuss.
Liebe Grüße
Achim
Marlis Kommentar kann ich mich nur anschließen. Unter einem blendenden Wortmantel das Blitzen von starken Emotionen. Und ohne dies wäre der Tag des Kusses heute unerhört an mir vorbeigerauscht. Nur Ophelia spukt mir schon die ganze Zeit im Kopf herum…
Oh weh, der blendende Wortmantel. Das trifft in mein kritikempfängliches Herz. Wie oft versuche ich gegen den Strom meiner Formulierungsweise zu schwimmen, allein, es gelingt mir nicht. Aber ich arbeite weiter daran. Es gibt ja viele Vorbilder inzwischen, Menschen in ihren Blogs, deren Formulierungsgabe ich bewundere. Du gehörst zu ihnen und andere wären zu nennen. Aber die sind alle in meiner Blogroll aufgeführt.
Liebe Grüße
Achim
Danke, Achim. Falls mein Kommentar als Kritik an Deiner Formulierungsgabe ankam… als solche war er nicht gedacht. Im Gegenteil. Der Zwiebellook zeichnet Deine Texte aus, und gerade das Häuten macht sie für mich so spannend..;-)
Klasse!!! Der Text.
Sonnigschöne Grüsse vom Schwarzen Berg
Vielen Dank, lieber Herr Ärmel. Das tröstet mich jetzt ungemein 🙂
gruß aus freiburg
Achim
Brauchten Sie Trost? Wegen des ausfallenden Konzerts von Jeff Beck etwa? 😉
Fastmitternächtliche Grüsse vom Schwarzen Berg
WTF ist Jeff Beck? 🙂
Öööhh – Sie sehen mich sprachlos ob Ihres Kommentars…
Sonnigschöne Grüsse vom Schwarzen Berg
Welch schöner Text, welch schönes Bild. Und…..hach… Schurken ❤️
Schurken? Wo? 🙂
All diejenigen, die der armen Ophelia ihren Weg in Richtung Kloster vermeintlich kreuzten und sie vom rechten Pfad der Tugend brachten 🙂
Das wäre ja mal ein Umschrieb der Tragödie, der sich gewaschen hätte. Ophelia, die Ikone der Prä-Raphaeliten, ertrunken im Blümchenmeer ihrer Unschuld. Vielleicht hätte sie Hamlet bearbeiten sollen, anstatt sich düsteren, handlungsfreien Räsonnements hinzugeben. Entschuldige bitte, aber ich bin wohl noch ein wenig beschäftigt mit dem Beitrag auf deiner Seite. Aber für wahre Schurken war er eine wahre Fundgrube 🙂
Oh man… Ich bin schockiert. Nachdem ich mich doch schnell ein wenig über ahnungslos unschuldige Ophelia belesen möchte, fällt mir dieses in meine noch viel ahnungsloseren Augen. Mir bleibt die Spucke weg 😀
http://www.stupidedia.org/stupi/Hamlet
Also die Beschreibung der Hauptcharaktere schockiert mich zu tiefst. !:D
Ach was, so schockierend ist das nicht. Sigmund Freud hat den ganzen Hamlet als Shakespeare’s Traum gedeutet und als Trauerarbeit denunziert. Verdrängungen, Vater -und Mutterkomplexe , Übertragungen, all der ganze toughe Stoff, aus dem die Dramen sind. Aber auf Ophelia lass ich nichts kommen. Sie ist mein Blumenmädchen, die subalterne Hippiebraut des frühen 16. Jahrhunderts.
Warst du auf der Seite? Also ich knie eh nieder, vor all den Revoluzzern der vergangenen Zeit. Sie gehört ab heut auch mit dazu 🙂
Yo, war ich 🙂 Wieder etwas neues dazugelernt. Ophelia, das geile Flittchen. Und dieser Hamlet, ein zölibäterer Hanswurst 🙂
Grins 🙂 Ich mag sie ja sehr, diese satirischen Seiten. 🙂