Das Vermissen geliebter Menschen geht bei mir einher mit einer Litanei körperlicher Mißempfindungen. Schwindel, Benommenheit, unwillkürliche Muskelkontraktionen, das Zucken der Augenlider, diese Spinnweben im Gesicht, der Aufmarsch der Ameisenheere in Beinen und Armen. Hinzu kommen ihre geistigen Verwandten: die temporäre Verwirrtheit und die mentale Orientierungslosigkeit, die Hellhörigkeit in die Stille und in das Nichts hinein. Der Zustand des Vermissens ist das Große an sich, sonst wären Körper und Gefühle nicht in diesem dramatischen Maße seine verständlichen Übersetzer und seine Struktur wäre eine Träne nicht wert. Das Vermissen der Heimat jedoch verblasst, da ich die Wege nicht mehr erinnere, die ich in ihr gegangen bin. Das Haus der Nachbarn hat die Generalsanierung des Abrisses hinter sich, Ampfer und Löwenzahn machen Platz für neue Pfade fremder Schritte. Der Wind bleibt nicht mehr spürbar, weil er sich dreht. Mein Körper kennt keine Folgen der Heimatlosigkeit. Die Trauer über ihren Verlust hat ihren Sitz woanders. Manchmal, wenn Kinder über den leuchtenden Farben einer Butterblume sitzen, ganz in ihr Staunen versunken, geht mein Blick nach innen und hört in den Sinnen auf zu sein.
Heimat – Vermissen
Kategorien:Home, Thoughts
Hat dies auf ReBlog! Hier findet sich alles was mir gefällt. Über "Kategorie" wirds dann übersichtlich 🙂 rebloggt.
Herzlichen Dank dafür und liebe Grüße aus Freiburg.
Achim
Das hast du sehr schön beschrieben. Macht mich ein bisschen traurig…
Keeper
Es sind die Menschen, die ich vermisse, insofern kein Grund zur Traurigkeit, auch wenn sich der Text ein paar Anleihen aus der Kiste der Melancholie entlehnt hat. Du gehörst zu diesen Menschen hinzu, wie du dir denken kannst. Wir sollten öfters zusammensein. An einem Ort, der uns allen gehört 🙂
Liebe Grüße, auch an Hubby
Achim
Es sind immer die Menschen, die Orte mit Leben und Sinn erfüllen…
Ja, die Menschen, die Menschen ………
Orte, die für mich Leben und Sinn haben oder hatten, die kann ich vermissen und auch betrauern. Vielleicht hängen ja Orten und Menschen irgendwie doch zusammen. Was ist, wenn in dem abgebrochenen Haus die Liebe meines Lebens gelebt hat?
Den Kindern ist wohl so etwas fremd. Sie haben ihr eigenes Leben mit einer eigenen Welt. Und alles geht von vorne los.
Ich danke für Deine Überlegungen. Sie geben mir, wie sooft, Gelegenheit Standpunkte zu prüfen.
Liebe Grüße, mick.
Lieber Mick,
die Liebe im abgerissenen Haus: Ich würde den Menschen vermissen, weil es so ist, dass ich ihn vermissen würde, egal, wo er lebte. Zu meinem Geburtsdorf selbst zieht es mich nicht mehr hin, nur zu meinen Geschwistern und ihren Familien, die dort noch wohnen. Und ich stelle mir beispielsweise vor, dass, wohnten sie in England (es gab da mal einen Plan, allesamt dorthin zu ziehen), dann wäre die Freude sie dort zu besuchen um ein vielfaches größer. So stelle ich es mir zumindest vor.
Liebe Grüße
Achim
Wie man so schön sagt: Aus der Seele gesprochen. Feiner Text! 🙂
Vielen Dank für diesen Komentar 🙂 Und einen schönen Gruß aus Freiburg
Achim
Lieber Achim,
schön wieder von dir zu lesen.
Wie man den Verlust der Heimat empfindet, hängt meines Erachtens davon ab, ob man seine Heimat freiwillig oder unfreiwillig verließ. Schöne Beispiele sind ja “Unterhaltungen deutscher Ausgewandeter” von Goethe und Brechts “Flüchtlingsgespräche”. Ich glaube, wer aus seiner Heimat vertrieben wurde, wird oftmals den Heimatverlust ähnlich schmerzhaft wie den Tod eines geliebten Menschen empfinden.
Ich bin dagegen freiwillig erst nach Finnland, dann nach Kanada und jetzt nach England ausgewandert und empfinde keinerlei Schmerz über den Verlust meiner ursprünglichen Heimat. Und hier muss ich schon innehalten beim Begriff “Heimat”, Heimat ist seit vielen Jahren Norfolk für mich, meine ursprüngliche Heimat ist fast völlig aus meinem Bewusstsein verschwunden. Ich glaube, käme ich wieder in diese Gegend (ich war dort seit etwa 30 Jahren nicht mehr), ich würde sie nicht mehr als Heimat empfinden.
Ich wünsche dir eine rundum angenehme Woche.
Mit lieben Grüßen vom Meer
Klausbernd
Lieber Klausbernd,
ich hatte die letzte Zeit einen kleinen Riss am Kreativitätshorizont verspürt, der jetzt hoffentlich wieder geflickt ist. Da ist wohl etwas dran, an dem Unterschied, ob man seine Heimat freiwillig oder unfreiwillig verlassen hat. Bei mir gab es hinzu noch eine Zwischenstation in Mainz, wo ich studierte und von dort mit der zweiten Liebe meines Lebens nach Freiburg zog. Wiewohl ich mich in Freiburg zuhause fühle, wenn man mich danach fragen würde, ist es doch nicht so, dass diese Tatsache eine unverrückbare ist. Dieses wirklich heimatliche Gefühl, welches aufkommt, wenn ich mich in England befinde, lässt mich an eine geheimnisvolle Kraft glauben, die dieses Gefühl möglich macht. In früheren Leben muss ich wohl Brite gewesen sein, wobei noch herauszufinden wäre, ob als Engländer, Waliser, Schotte oder Ire 🙂
Liebe Grüße aus dem Freiburger Frühling
Achim
Guten Abend, lieber Achim,
mir kommst du als Engländer vor. Ich würde dich zumindest glatt zum Ehrenengländer befördern 😉 Heimat, wenn man darüber nachdenkt, ist schon ein komplexer – leider auch oft politisch missbrauchter – Begriff. Da ich schon länger in England lebe, als irgendwo anders und deswegen hier meine sozialen Kontakte habe, sehe ich England als meine Heimat. Aber das ist nicht der einzige Grund. Ich habe hier Haus und Land, das ich frei nach meinen Bedürfnissen gestaltet habe. Freilich könnte man dies als äußerlichen Grund abtun, aber die selbst gestaltete kleine Welt ist ja mehr als nur äußerlich. Da gibt es aber noch eine andere, größere Seele in meiner Brust, die sich erst meldete, als ich Jahre auf anderen Kontinenten – Asien, Amerika und Afrika – weilte, die sich in Europa heimisch fühlt. Ich fühle mich kulturell in Europa heimisch.
Dies nur ein paar Gedanken zur Heimat.
Mit ganz lieben Grüßen von Norfolk nach Freiburg
Klausbernd
Lieber Klausbernd,
England ist meine äußere Fluchtburg, wenn es darum geht, aus deutschem, vor allem beruflichen Stress, auszubrechen. Land und Leuten dort, ich fühle mich ihnen einfach näher. Die Gastfreundschaft, der ganze kulturelle Überbau, Kunst und Literatur, Musik, die soziale Qualität des britischen Humors …. ich könnte mich jetzt immer so weiter in diesem Aufzählreim ergehen. Vieles von meiner Leidenschaft für England habe ich vor einiger Zeit in diesem Blog
bereits dargelegt, in dem Beitrag “To Shakespeare with Love”. Ich bin eben kein Goetherianer, sondern Shakespearerianer 🙂
Herzlichen Dank für deinen Kommentar und nochmals Grüße hinauf ans kleine Dorf am Meer.
Achim
Eben, es ist aus der Seele gesprochen. Es kommt immer darauf an, aus welchem Grund man wohin gekommen ist oder kommen möchte. Das ist einzusehen. Niemand ist eine Insel. Ich danke Dir für diesen tollen Text.
Liebe Grüße, mick.
Lieber Mick,
Die geliebten Menschen und mein Inneres, das ist der Schlüsel und das Schloß, auch am Ende der Welt oder auf einem anderen Planeten. Heimat ist, wo sie sind, meistens sind sie bei mir, auch auf Reisen und am liebsten trage ich sie mit mir in England.
Nochmals liebe Grüße, Achim
lieber Achim, was für ein wunderbarer Text, wieder habe ich ihn zweimal gelesen … ich stimme dir zu, ich vermisse selten Orte und schon gar nicht den, wo ich geboren und die ersten 11 Jahre lebte, aber ich kann Menschen vermissen, immer und immer wieder … DAS ist schmerzhaft … du hast es wunderbar beschrieben, auch wenn ich kein Ameinsenkribbeln kenne, aber die Leere, das Lauschen ins Nichts hinein, das kenne ich gut …
Mützenfalterin zitierte letztens eine Dame, deren Name ich gerade eben nicht erinnere, die sagt, dass Heimat in der Kindheit angesiedelt ist, das ist es wohl, wenn ich bei roten Backsteinhäusern in hügeligem Land -z.B.- heimatliche Gefühle entwickel-
bezugnehmend auf vorher Geschriebenes denke ich gerade, dass wir vielleicht zwischen Heimat und Zuhause unterscheiden sollten … ich kann mich auf dem Berg Zuhause fühlen, aber Heimat ist es eben nicht … Menschen, die meine Sprache sprechen, auch im übertragenem Sinne, wecken in mir ebenfalls Heimatgefühle und … Kinder.
ich wünsche dir von Herzen feine Ostertage
Ulli
in den Schweizer Bergen …
Liebe Ulli,
auch hier mein verspäteter Kommentar. Vielleicht muss man wirklich den Unterschied zwischen Zuhause und Heimat machen. Der Begriff “Heimat” ist mir zu sehr deutschtümelnd. Da entfalten sich in mir ein paar merkwürdige Konnotationen, die in Richtung großnationale “Heimat” und deren entschlossene völkische Verteidigung driften. Insofern ist der Begriff für mich auch negativ besetzt durch den abgrundtief bösen Zwischenschritt deutscher Geschichte.
Liebe Grüße in den Norden aus Freiburg
Achim
Hat dies auf DUNKELROT Blog rebloggt und kommentierte:
Beautiful.
Wie du das Vermissen von geliebten Menschen beschreibst, geht mir unter die Haut. Ich bin zwar nur in die Südschweiz ausgewandert, aber ich glaube so eine richtige Heimat habe ich niergens mehr. Cari saluti Martina
Lange her, dieser Text … aber passt immer noch …. ich schrieb ihn, als mein Sohn und meine Schwiegertochter Freiburg Richtung Mainz verließen. Inzwischen sind aber wieder zurück 🙂
Das freut mich für dich!