Das Meer und der Stein erzählen

Wales 2010 EinsIch lechze nach den großen Narrativen. Nach Märchen. Mein Sinn steht nach dem Gewicht von Bibeln und den sonstigen Konvoluten des schönen, grausamen Scheins. Die Wahrheit, falls es sie gibt, darf mich betrügen. Sie darf das “Als ob” und ihre mimetischen Abziehbilder meinen Synapsen zum Fraß vorwerfen. Ich mag die, die erzählen können, sie kommen über das Meer. Sie kommen als Sisyphos, ein glücklicher Mensch, der den Stein der wundersamen Tage des Nachts herunterrollen lässt, um den bevorstehenden Tag zu küssen. Der Stein, der unsere Freiheit ist. Der absurde Stein, der Ja sagt inmitten des Gerölls der Sinnlosigkeiten und der Horizontlinien der Sterblichkeit.
Wir sind die blinden Erzähler Camus’, die sehen möchten, obwohl sie wissen, dass die Nacht kein Ende hat. Das gottlose Universum, es kommt mir als Chance gerade recht, dem Husserl’schen Gang hin zu den gerochenen, geschmeckten und gesehenen Sinnesdingen für immer zu versagen. Sisyphos denkt nicht: “Alles in Scherben, ohne Bezug, hier ist zu wenig und dort nie genug. Wir glauben, jeder allein, der Phoenix zu sein, den es nur einmal gibt.”
Wir sind die Herren unserer selbst und in den Erzählungen sowieso. In den Gedichten, die die ontologische Geschichte schreiben jedes einzelnen Dings. Und obwohl wir keine Vorstellung von einer Vorstellung haben, lebt sie in jedem Winkel des Erzählten, und im besten Fall endet das Erzählte in einer vorsprachlichen Welt ohne Sinnanspruch, im Bauch der Lacan’schen Mutter. Und ja, ich liebe auch das süßlich Sentimentale wie eine nahrhafte Mehlspeise. Ich liebe die Herzensnothelfer von Schmonzetten, denn auch sie erzählen, rollen den Stein und rufen über sich selbst hinaus nach einem metaphysischen Halt und geiseln den Fakt, dass die Kunst immer noch den Experten überlassen wird.
Ich liebe die, die erzählen, denn sie kommen über das Meer. “Und wie zum Sandstrand Welle eilt um Welle, so eilen hin zum Ende die Minuten.” So lass uns die Ideen, lieber Aristoteles, denn Platon stammt ganz sicherlich von Poseidon ab. Die Erzählung ist die Idee von Kiemen und Schwimmhäuten und verkörpert so die Schnittstelle der Ideen zum Materiellen, wenn sie zum Land hin sich erzählt. Ich verehre Objekte in Romanen, und ja, sie sind die “Dinge an sich”. Das Bewußtsein ist nicht immer nur Bewußtheit von etwas. Es gibt das Denken, das keinen Gegenstand kennt, da möchte ich mir sicher sein. Vielleicht gibt es ein Denken von einem Stein, den wir den Berg hinaufrollen. Aber das ist gewiss und ich lasse es als das Mindeste gelten, denn es reicht, wenn es erzählt werden kann. Alles andere soll der Schein von Shakespeares Träumen sein. Denn aus diesen stammt eine Gewissheit, die noch vor dem Wissen liegt.  Ich träume von nackten Tatsachen, die unabhängig sind von menschlichen Betrachtungen, Tatsachen, von denen wir nichts wissen. Ich träume vom guten Ende der Sinnlosigkeit durch das Ende der begierigen Interpretationen der Welt. Ich werde das Erzählen lieben, auch wenn es sich die Freiheit nimmt zu schweigen.

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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13 Comments

    • Lieben Dank für das Rebloggen, ich habe mich sehr darüber gefreut. Ein schönes Wochenende dir und viel Erfolg im Kampf gegen das Lektorat 🙂

      Achim

      • Sehr gerne!
        Der “Mythos von Sisyphos” gehört zu einem der ersten Bücher die mich nachhaltig beeinflusst haben. Ich fand Deinen Text sehr dicht, sehr ausdrucksstark, sehr tief.
        Da war rebloggen praktisch Pflicht 😉

        Peter

  1. Wow!
    “Und ja, ich liebe auch das süßlich Sentimentale wie eine nahrhafte Mehlspeise. Ich liebe die Herzensnothelfer von Schmonzetten, denn auch sie erzählen, rollen den Stein und rufen über sich selbst hinaus nach einem metaphysischen Halt und geiseln den Fakt, dass die Kunst immer noch den Experten überlassen wird.”
    “Ich träume von nackten Tatsachen, die unabhängig sind von menschlichen Betrachtungen, Tatsachen, von denen wir nichts wissen. Ich träume vom guten Ende der Sinnlosigkeit durch das Ende der begierigen Interpretationen der Welt. Ich werde das Erzählen lieben, auch wenn es sich die Freiheit nimmt zu schweigen.”
    Was soll ich dazu noch schreiben?
    Gleichwohl nicht süßlich Sentimental, so ist der TExt sentimental genug um wie ein Dampfnudel zu trösten.
    Minze kommt auch drin vor.
    Die Revolte. Der Mensch in der Revolte. Die Freiheit, die Endlichkeit.
    Ich verehre Camus, und freue mich umso mehr an diesem Text!

    • Lieben Dank für deinen Kommentar, über den ich mich sehr gefreut habe. Eine Gratwanderung, das mit dem Sentimentalen, ich gestehe. Schön, dass du der Meinung bist, dass der Text hier die Waage hält. Und dein Bild von der “tröstenden Dampfnudel” hat Klasse für sich.

      Liebe Grüße

      Achim

  2. Alles gut Erzählte kann man lieben. Man kann darin schwimmen und für eine Weile abtauchen. So etwas verbindet.
    Danke für das Meer, danke für Deine Texte und Deine Fundstellen.
    Liebe Grüsse, mick.

    • Hallo lieber Mick,

      lass dir erzählen, dass mich deine Sätze gerührt haben. Ich schreibe meine Blog, um Leser wie dich zu erfreuen. Einer zusätzliche Motivation bedarf es nicht. Ich danke dir für deinen Komentar. Und “in Texten zu schwimmen” ist ein schönes Bild für den Vollzug unserer Leidenschaft des Lesens.

      Liebe Grüße

      Achim

  3. Lieber Achim,
    da ist dir ein wortgewaltig feiner Text gelungen. Vielen Dank, dem ist nichts mehr hinzuzusetzen 🙂
    Ganz liebe Grüße von der heute sonnigen Küste Norfolks
    Klausbernd

    • Lieber Klausbernd,

      hab Dank für deinen Kommentar. Ich habe gerade deinen neuen Blogbeitrag gelesen und ich bin von euren Gedanken und Ideen hin- und hergerissen. Ich werde mir Gedanken machen müssen, um eure Fragen an uns Leser treulich beantworten zu können. Das wird eine Aufgabe sein für das Wochenende.

      Liebe Grüße zu euch allen nach Cley

      Achim

      • Lieber Achim,
        habe ganz herzlichen Dank für deine Gedanken, die uns SEHR geholfen haben. Toll, dass du dir Zeit nahmst, über unsere Fragen nachzudenken. Alles Weitere auf meinem Buchfeenblog …
        Ganz liebe Grüße nach Freiburg
        Klausbernd

  4. lieber Achim,

    dies ist wieder ein Text von dir, den ich gleich zweimal gelesen habe, in dem ich ertrinken kann und gleichzeitig wecken sie meine eigenen Worte und Assoziationen- ja, so sollte ein Text sein! Ich werde ihn heute mit durch den Tag nehmen- danke dir

    herzliche Grüße
    Ulli

    • Herzlichen Dank für deinen Kommentar, liebe Ulli

      schön, dass dir dir der Text gefällt. Aber bitte nicht darin ertrinken, sonst muss ich wohl zukünftig das Meer/Die See als Katalysator meiner Gedanken hintanstellen, schließlich brauchen wir dich noch in der Welt des Bloggens 🙂

      Liebe Grüße hinauf zum Berg

      Achim

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