Hommage an die Unehrlichkeit

Die Welt, wie sie uns in heutiger Zeit entgegentritt, und die Menschen darin, sind Reflektionen eines wachsenden Scheins. Wir erkennen sie nur halb oder gar weniger. Wir ahnen ihren Warencharakter, weil er vorhanden ist. Wahre Aussagen über sie und Versuche ihrer Objektivierung sind nicht möglich. Waren sind Träger von Absichten, Rollen und Funktionen. Ihr Wesen ist davon überlagert. Also ist jede Aussage über die Welt und die Menschen gebunden an die Bereitschaft, daß diese überhaupt mit uns in Kommunikation treten wollen.
Wenn jetzt, wie behauptet wird,  Ehrlichkeit die Ablehnung der Unwirklichkeit ist, die Wirklichkeit aber nicht fassbar, kann man dann sagen, dass die Unehrlichkeit die andere, nämlich subjektive Seite einer nicht durchschaubaren Welt ist? Und sie dadurch prädestiniert ist, der Wahrheit hinter der Welt näher zu kommen? Sozusagen durch die Hintertür, mit kleinen, lässlichen Lügen in der Kommunikation? Ich meine ja.
Ehrlichkeit setzt unbedingtes und vollständiges Wissen über uns selbst voraus. Dieses Wissen haben wir nicht. Wir haben auch kein eindeutig moralisch determiniertes Wertesystem, auf das wir uns berufen könnte. Was wir haben ist jedoch der Wunsch nach Austausch, nach Anerkennung und Achtung. Und ich behaupte, dass Ehrlichkeit, dieses wohlmeinende Monstrum, wenig produktiv ist in dem Bestreben nach Wahrheit über die Welt, nach Kontakt zu den Menschen und nach dem notwendigen Ideal unserer selbst.
Die Unehrlichkeit jedoch schützt nach innen vor der Selbstverachtung. Denn wer ist frei von der Angst, dass ihn jemand so sehen könnte, wie er sich selbst sieht? Nach außen lässt sie uns weitaus schneller und befriedigender in Kontakt zueinander treten, wenn wir die kleinen unehrlichen Sünden einsetzen, als da wären: Die Heuchelei, die Schmeichelei, die Verstellung, der Vorwand, die Notlüge, die Übertreibung, das Gerücht, das Verschweigen. Die Liebe zur Ehrlichkeit ist die Tugend des Zuschauers, nicht die der handelnden Personen (George Bernhard Shaw). Dieser Satz beinhaltet viel ehrliche gemeinte Wahrheit.
Wir alle wollen Handelnde sein. Uns schön schminken. Uns um Kopf und Wahrheit reden. Nicht dumm sterben wie der Ehrliche. Uns gegenseitig interessant machen. Uns zeitlos und makellos denken. Auf jedes Gerücht über uns einprügeln und jede kleine Halbwahrheit und große Wahrheit über uns ignorieren.
Je größer die Selbstverleugnung, desto schwächer die Selbstverachtung, desto schwächer aber aber auch die Verachtung des Partners. Sind wir einfach gehorsames Opfer unserer Selbstsuggestionen. Die durch sie erzeugten Informationen über uns prägen sich allmählich als Wahrheit ein.
All das ist notwendig, um im Jahrmarkt der Eitelkeiten zu überdauern. Wer also nichts anderes kann, als alles zu sagen was er empfindet, hat bald Kommunikationsschwierigkeiten. Übertriebene Offenheit kann sogar zur Taktlosigkeit werden. Ehrlichkeit, die einsam macht, ist einfach nicht mehr zeitgemäß.
Außerdem ist statistisch erwiesen, dass nur die Hälfte dessen was wir täglich sagen, wahr ist. Aus Höflichkeit, Angst, Bescheidenheit, oder nur, um uns besser darzustellen. An diesem Brauchtum wird sich nichts ändern, solange es Menschen gibt.

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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13 Comments

  1. Problematisch wird’s nur wenn man z.B. die Schmeicheleien als Schwindeleien oder eben als Schmeicheleien identifizieren kann. Was macht man da? Ach! Selbstbetrug! Ich vergaß. Stoff aus dem Verwicklungskomödien sind, hab’ ich früher mit Vergnügen geschaut… 🙂

    • Hallo silberfink,

      herzlich willkommen auf meinem Blog und vielen Dank für deinen Kommentar. In Bezug auf deine Fragen würde ich sagen, dass die Schmeicheleien und Schwindeleien sich ein passgenaues Kleid der Wahrheit schneidern müssen, um undurchschaubar zu bleiben 🙂

      Liebe Grüße

      Achim

  2. ich stimme bei vielem, was du schreibst, zu … gerade am Anfang deines Artikels dachte ich an eine meiner neuen Fotoserien, die gerade in Arbeit ist, sie heißt die Kopf- und Gesichtslosen, das sind Schaufensterpuppen ohne Gesicht oder Kopf, bei denen die Kleidung locken soll- auch eine Form von Ehrlichkeit in der Welt von Haben-wollen-müssen, Verkaufen-was-das-Zeugs hält … was braucht es da Gesichter … einer Welt, in der wir morgendlich die Maske betreten, um hier ein bisschen zu tünchen, dort ein bisschen zu wuscheln oder gerade zu legen oder weg damit …

    es gibt das Verschweigen, die Notlügen um zu schützen, sich selbst und die/den anderen …
    es gibt Geheimnisse …

    aber mir ist noch nicht ganz klar, was du mit diesem Satz sagen willst: Je größer die Selbstverleugnung, desto schwächer die Selbstverachtung, desto schwächer aber aber auch die Verachtung des Partners. Meinst du wirklich, dass die Verachtung eines Partners, einer Partnerin wächst, wenn man sich weniger selbst verleugnet? Wenn du dies so meinst, dann gruselt es mich … und gleichzeitig erahne ich auch hier ein Stück Wahrheit.

    herzliche Grüße
    Ulli

    • Liebe Ulli,

      vielleicht kann man sagen, dass die Selbstverleugnung den leidenschaftslosen Blick auf die eigenen Schwächen und schlechten Eigenschaften unterbindet. Das kann auch aus Gründen des Selbstschutzes geschehen. Wir gehen unkritischer mit uns um und schaffen dadurch vielleicht erst das vergebende Verständnis für die schlechten Charaktereigenschaften des Anderen. Aber wie bei allen meinen Ausflügen in die Küchenpsychologie hat mein Statement im Blogbeirag etwas von verkürzter Apodiktik. Sehe es mehr als provokante Haltung.

      Liebe Grüße hinauf zum Berg

      Achim

  3. Täglich lügt der Mensch im Schnitt 200 mal. Männer etwas mehr, darüber gibt es witzige und weniger lustige Bücher. Ohne der Lüge hätten Mann und Frau wahrscheinlich keine Chance sich näher zu kommen. Die Liebe zum Partner und zu den Mitmenschen profitiert von der Kunst der Lüge, ich finde deine Hommage berechtigt und keineswegs abschreckend. 🙂
    Liebe Grüße
    Dina

    • Männer etwas mehr, hm, dabei sollen die Frauen doch durchschnittlich täglich mehr reden 🙂 Wie auch immer. Allein schon aus Gründen der Höflichkeit, des Respekts und des Harmoniebedürfnisses empfiehlt sich die lässliche Lüge.

      Liebe Grüße aus Freiburg

      Achim

  4. Lieber Achim,
    naja, der Schein ist dem Wesen wesenhaft und sind wir nicht alle Pretenders – also eigentlich Lügner?
    Ich bin`s zumindest, huch, und das noch schamlos 😉
    Die Lüge könnte man doch auch als Kunstform betreiben – oder? 🙂
    Ganz liebe Grüße
    Klausbernd

    • Lieber Klausbernd,

      da Kunst uns in einen Sinnzusammenhang stellt, den wir so in der Realität perspektivisch noch nicht wahrgenommen haben, macht Kunst uns ja immer schon “etwas vor”. Auch dann, wenn sie nicht explizit “lügt”. Die Kunst steht immer schon im Status des “als ob”. Zum Beispiel wissen wir, die wir deinen Blog lesen, dass Selma und Siri Inventionen des “Masters” sind. Und trotzdem lieben wir sie als Kunstgriff eines Schreibens, dem durch diese “Erfindung” eine Verdreifachung der Stimmen möglich geworden ist, die zusammen auch das Dreifache an lesenswerten Informationen bieten 🙂 Diese “Finte” ist lässlich und bringt uns Freude. Da es sich bei deinem Blog nicht um eine literarische Kunstform handelt, könnte man euch dieses “unehrlichen” Kniffes wegen tadeln. Tun wir aber nicht, ich schon gar nicht, denn bei mir fällt dein Blog genau ins Raster meiner “Hommage an die Unehrlichkeit” 🙂

      Liebe Grüße aus Freiburg an euch “drei”.

      Achim

  5. die Provokation, lieber Achim, ist dir (in meinem Fall) gelungen … zugegeben ich habe ein Thema mit Lügen und der Wahrheit und finde nichts hinderlicher, als die Überlegung, ob es denn nun wahr ist, was mir da gerade eine/einer erzählt …
    auch gehöre ich zur Spezies der Selbstkritischen und ja, manchmal kann ich das durchaus übertreiben! Beides … die Wahrheitsliebe und die Selbstkritik. Es ist wohl das Wort Verachtung, das in mir nachhallt- ich möchte weder selbst verachten, noch verachtet werden, okay, auch das gelingt nicht immer-

    aber wie ich ja schon im ersten Kommentar schrieb, ich weiß um die kleinen und größeren Lügen und derer bediene ich mich ebenso, wie alle anderen, dabei geht es mir um skillfull actions … schade, dass es keine adäquate Übersetzung für skillfull gibt …

    herzliche Sonntagsgrüße vom herbststürmischen Berg
    Ulli

  6. Lieber Achim,
    genauso ist es, du hast es liebevoll entlarvt 😉 Gibt sich nicht die positive Seite der Lüge als Lust am Spiel? Genau wie du es sagst.
    “Und”, schalten sich Siri und Selma kichernd ein, “schon dem Faust wohnten zwei Seelen in seiner Brust – wie bei Masterchen – nämlich WIR. Jeder von uns der gelungene Homuculus. Sind wir nicht liebreizend? Dazu noch pflegeleicht und inspirierend, kurzum Masterchens Traum – UND nicht vergessen! dieser Traum ist ja Realität, also sind wir es auch – ätschbätsch, da haben wir dich aber an der Nase herum geführt. Wir haben uns nämlich Masterchen ausgedacht, weil … Nein, das verraten wir nicht, psssssssssssst! hoch geheim!”
    Ja und nun kommt das Dilemma, wer schreibt denn hier eigentlich, fragt Selma Masterchen und selbst Siri ist rastlos.
    Liebe Grüße
    WIR 🙂 🙂 🙂

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