Oblomov auf den Klippen von Galway

galway“Die Zeit will einen fertigmachen, oder?” (Fragt Bennie Salazar in Jennifer Egan’s Roman: Der größere Teil der Welt). Wie unrecht er doch hat. Wir haben es endlich geschafft. Wir verbringen unsere Tage im Status der feindlichen Übernahme der Zeit. Der Zeit und dem, was von ihr übrigbleibt, wenn sie am Ende im Gewitter des Stakkato und Fortissimo unserer Smartphone Handy Welt waidwund darniederliegt:  Ein Reh, unschuldig, mit gebrochenem Augenlicht. Ausgeweidet und aller mächtigen Erhabenheit beraubt. Erhabenheit, die einmal war, als Zeit noch eine Chance hatte, das zu tun, was sie am liebsten tut: einfach nur vergehen. Wie unrecht Bennie doch hat. Sind wir es doch, die die Zeit usurpieren. Wir schaffen Langeweile ab und  boykottieren die Langsamkeit. Für uns ist Müßiggang eine durch Arbeitpsychologen reparable  geistige Verwirrung. Ein Zustand, dem abgeholfen werden kann. Die Beschleunigung des Zeitempfindens ist schließlich  eine ehrenwerte Aufgabe. Schwermut, Melancholie und Depression sind Hemmnisse des kapitalistischen Kodexes, seiner ökonomischen Minimax Prinzipien, die  von uns fordern, immer mehr in immer verkürzten Zeiteinheiten zu leisten. Solange, bis die Sollbruchstelle des Sollens unter dem gewaltigen Druck des individuellen Wollens endlich bricht. Wenn ich meiner häuslichen Schlurigkeit und Faulheit, dem rituell gelebten Müßiggang ein Exterritorial je schenken könnte, dann gelange ich dorthin, wo Einsamkeit ihre behutsamen Zähne in die Landschaften hineingeschlagen hat: Irland, Wales und das England ohne Metropolen. Oder ich gelange in Gebäude, die durch die klösterlichen Wirkungen der Historie die Stille, den Rückzug des Einzelnen und die wie in Marmelade eingedickte Langsamkeit neu gebären. Und  die zur Sprachlosigkeit verführen, diesem ersehnten Wunder im Umgang mit der Welt. Einer Welt, die kein Sagen mehr notwendig hat und vor allem kein Geschwätz. Eine Welt, in der die Stille Stille ist und die Einsamkeit beredt. Eine Couch, hoch  oben auf den Klippen von Galway. Ich verschwende meine Zuneigung an die heranbrechenden Wellen. Zwei Katzen streifen um meine Beine. Sie wenden sich ihren Geschäften zu, in der vollkommenen Genügsamkeit ihrer Empfindungen. In ihren halbgeöffneten, schläfrigen Augen erkenne ich die ganze Summe dessen, was nur an einem 8. Schöpfungstag hätte geschaffen werden können: Duldsamkeit. Hoch auf den Klippen will ich “Oblomov” lesen und “Lob des  Müßiggangs”. Und Thornton Wilders “Der achte Schöpfungstag”.  Und Proust, mit dem Unterschied, dass es diesmal die Scones sind, die meiner verlorenen Zeit und der Erinnerung auf der Fährte sind, und nicht die Madeleines. Zeit, die du einfach nur vergehst.  ‘Life stand still here.” (Virginia Woolf: To the lighthouse).

Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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16 Comments

  1. Hallo Achim, du hast dich umbenannt…. ich war ganz verwirrt.
    Nach Galway möchte ich gerne irgendwann einmal reisen. Es muss sehr inspirierend dort sein.
    Grüße von Susanne

    • Liebe Susanne,

      eine nervöse Unruhe hat mich gepackt. Das mündet bei mir immer in eine Art hektische Betriebsamkeit. Alles wird in Frage gestellt. Da probiere ich aus, gehe Ideen nach etc. Der Blogtitel “All Souls College Oxford” bildete schon lange nicht mehr ab, was in diesem Blog vorgestellt wird. “The Windmills of Your Mind” , ein Song des französischen Komponisten Michel Legrand, mit dem englischen Text der Amerikaner Alan und Marilyn Bergman, hat mich zum neuen Blogtitel inspiriert. Mag sein, dass der neue Titel nur vorläufig bleiben wird, ich lasse mich da überraschen. Galway bereiste ich 1979. Mit zwei Kommilitonen. Die Erinnerung daran ist verblasst. Aber eine Szenerie habe ich noch lebendig vor mir: Wir saßen auf den Klippen von Moher, in Stille versunken, trotz des Meeresrauschens tief unten.
      Irgendwann werde ich dort wieder sitzen und vielleicht bist du dann schon dort gewesen.

      Liebe Grüße

      Achim

  2. “Eine Welt, in der die Stille Stille ist und die Einsamkeit beredt.” Als wärest du hier gewesen …
    liebe Grüße
    Ulli

    • Liebe Ulli,

      wie ich oben schrieb, ich war 1979 dort. Oder meinst du mir “hier” den Berg von Frau Blau? 🙂 Eine Couch und Katzen müssten bei meinem nächsten Besuch bereitstehen. Da muss ich wohl die Bitte an die Einheimischen richten.

      Liebe Grüße aus Freiburg

      Achim

      • ja tatsächlich meinte ich den von mir bewohnten Berg, auf dem es leider weder eine richtige Couch (nur son kleines Ding) und keine Katzen (außer denen in der Nachbarschaft) gibt … 😉

        lieber Achim, so ist es lange her, dass du in Galway warst, da wird es Zeit, oderr?!
        ja, manche Orte, die man einst entdeckte, locken gerne ihn ein zweites Mal zu besuchen, aber dann denke ich immer, dass die Erde doch sooo groß ist und ich so viele Orte noch gar nicht entdeckt habe und in England schon einmal gar nicht, schade, ja!

        genieße den Sonntag
        liebe Grüße
        Ulli

        • Da habe ich ja richtig vermutet 🙂 Die Sehnsucht nach einem vor langer Zeit aufgesuchten Ort ist ja das stärkste Instrument des Wunsches, dass Zeit stillstehen möge. In zwei Jahren werde in Dublin sein. Da habe ich noch etwas zu erledigen, was man photografisches Archivieren nennen muss. Ich war zu meinem 50ten 2005 dort und hatte keine Kamera dabei. Galway wird noch etwas warten müssen. Die Welt ist zwar groß, aber ich habe den Drang zur Konzentration. Das ist wohl dem vorgerückten Alter geschuldet.

          Liebe Grüße

          • Konzentration und vielleicht auch in die Tiefe gehen? ich denke gerade, dass ich einen Ort erst mit der Zeit wirklich erfassen kann, dazu braucht es dann mehr als nur einen Besuch …
            ausserdem ist es mir manchmal wie Pessoa schrieb:
            “was kann mir China geben, das meine Seele mir noch nicht gegeben hätte? Und wenn meine Seele es mir nicht geben kann, wie dann kann China es mir geben, da ich China mit meiner Seele sehen werde, falls ich es sehen sollte! Ich könnte im Orient nach Reichtum suchen, nicht aber nach dem Reichtum der Seele, denn der Reichtum meiner Seele bin ich, und ich bin, wo ich bin, mit oder ohne Orient …”

  3. “Die wie in Marmelade eingedickte Langsamkeit” – ein beredtes Bild für die Art von Langsamkeit, die aus der Zeit gefallen scheint.

    • Lieber Mick,

      “Hier zu sein” ist ja ein sinnfälliger Ausdruck für die Sehnsucht, das Heimweh, das Fernweh. Und manchmal geht es in den Wunsch bruchlos über “Dort zu sein”.

      Liebe Grüße

      Achim

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