Antimaterie und Gegenwelt

AntimaterieHeute die ersten wirklich sichtbaren Zeichen des Alters. Hinter meiner Billigsonnenbrille versteckt, stolpere ich aus der Straßenbahn in Richtung der gemieteten vier Wände, die mich wie immer mit dem Habitus einer Eigentumswohnung empfangen und die Illusion meines Besitzdenkens befeuern und nähren.In der Straßenbahn las ich, ich kenne es nicht anders. Kein eigenes Fahrzeug zu besitzen ist der Königsweg hin zum Buch. Beim Lesen dehnt sich die Zeit und hat man nicht den Anspruch, Zeit nach Maßgabe der eigenen Vorlieben zu nutzen? Wo früher die Struktur der  Mahlzeiten dem Tag das Gerippe gab und seinen festen Halt, sind meine heutigen Tage nach der Häufigkeit der Lesephasen strukturiert. Die Gesundheitsapostel plädieren für fünf oder mehr kleinere Mahlzeiten, und ich rede jetzt nicht von dem was man dabei tunlichst zu essen habe. Meine geistige Völlerei ist das Lesen. Lesen in Häppchen, Lesen am großen Stück und Lesen über die Grenzen der  Einbuchlektüre hinweg. In diesen Dingen bin ich mein eigener Apostel der Gesundheit.
Die Gleichzeitigkeit des geschriebenen Ungleichzeitigen. Ich lese im Durchschnitt drei bis fünf Bücher parallel und habe, je nach Tageszeit, meine Leselüste auf die unterschiedlichsten Anpruchsgrade des Gelesenen und die Orte ihres Vollzugs konditioniert. Den Krimi im Bett, die Philosophie auf der Couch und die Belletristik in allen sich bewegenden Vehikeln und allen Cafés meiner trauten, kleinen Welt. Alles in Allem ist das, wie ich finde, ein Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass die Gewissheit meiner näherrückenden Endlichkeit den Hunger auf geistige Nahrung ins Unerhörte und damit auch ins wachsende Unverständnis meiner Mitwelt katapultiert. Als wäre es nun meine vornehmste Aufgabe, dem gesegneten Zeitlichen immer neue Wissenswiesen abzuluchsen, auf denen ich grasen und wiederkäuen darf. Eine Wette mit dem Tod. Aber heute kam ein weiteres Zeichen meines Alterns hinzu. Das Lesen hinter der Sonnenbrille. Wo keine Sonne war und kein Licht. Wo auf der Fahrt durch enge Straßenschluchten das Tragen einer Sonnenbrille so angemessen ist wie das Senken des Cholesterinspiegels mit einem Eieromelette. Ich fühlte mich wie der Held in Ralph Ellison’s Buch “Unsichtbar”, nämlich völlig unsichtbar. Ich fühlte mich wie Antimaterie, verfolgt von Elementarphysikern, denen ich mich in der flüchtigen Dauer einer 2o Milliardstel Sekunde offenbarte. Ich zelebrierte eine Gegenwelt. Ich übte das mentale Verschwinden und Versinken hinter Schatten von Glas. Unsichtbar die soziale Welt um mich herum. Diesen Fakt trieben mir zwei alte Mütterchen wie den Pflock eines Vampirjägers mitten ins Herz meines reinen Gewissens. Ich hatte sie überlesen und übersehen. Meinen behaglichen Platz nicht für sie freigegeben. Beim Verlassen der Bahn trafen mich ihre bösen Blicke der Verachtung wie Jupiters Donnerkeil. Ich trug mein Buch noch in der Hand. Auch das ein sichtbares, sicheres Zeichen meines sich wandelnden Bewußtseins von Zeit. Mein trotziges Aufbegehren gegen ihre Flüchtigkeit. Vielleicht ist das unbegreifliche Tragen des Buchs beim Gehen ab sofort das stärkste Argument für meine Existenz. Und ganz nebenbei macht es mir Spaß, dem allgegenwärtigen Wedeln von iPhones die Singularität des Winkens meiner Bücher entgegen zu setzen. Ich befinde mich im Heiligen Krieg, ich lebe. Jetzt nur noch die Elementarphysiker in der Bahn aufspüren und eliminieren, damit sie meiner Gegenwelt nicht habhaft werden. Unsichtbar.
Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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10 Comments

  1. Hello Ramblingbrother 🙂
    Nachdem ich mich beim Lesen Deiner Gedanken jedesmal fühle wie ein geistiger Dieb, der zwar alles in sich aufsaugt (zumindest die Teile, die er versteht…), aber nie eine Spur seines Daseins hinterlässt, will ich heute endlich einmal mit einem Kommentar “bezahlen”.
    Die Gründe für den Lesediebstahl sind in meinen Augen an sich ganz gewöhnliche – ich will mir immer etwas Zeit nehmen, um zu antorten und befinde mein Zeitkontingent dann nie für ausreichend. Natürlich kann man auch sagen: Ausreden! Vermutlich trifft das den Kern auch.
    Zur Verteidigung kann ich nur sagen, dass es mich jedesmal bedeutend mehr Zeit kostet, Deine Einträge zu lesen als andere. Ich bin kein Freund komplizierter Schreibweisen – das mag daran liegen, dass meine Vorgesetzten solche des öfteren benutzen, weil sie sich einfach nicht klar ausdrücken können. Oder wollen. Oder dürfen. Und normalerweise gehe ich diesen Dingen dann gern aus dem Weg. Ich bin zu einfachen Dingen erzogen. Und wärest Du nicht ein Ramblingbrother 🙂 , wäre ich vermutlich auch nicht in Deinem Blog hängengeblieben. Und doch… Nun erwische ich mich dann und wann, genüsslich und oft mit Grinsem im Gesicht einen neuen Eintrag hier zu entdecken und dann nehm ich das Notebook mit auf die Couch, und mach es mir gemütlich in der Welt Deiner Gedanken.
    Ich gebe zu, manchmal denke ich “WHAT????” – aber was kannst Du für meinen begrenzten Horizont 🙂
    Im Übrigen lese ich nicht so wahnsinnig gern im Internet. Ist in irgendeiner Ecke Deines Gehirns auch der Gedanke geparkt, vielleicht einmal etwas in Papierform zu veröffentlichen?
    Etwas, dass ich dann auch in die Warteräume von Friseur und Arztpraxen etc. mitnehmen könnte, schließlich werd ich auch nicht jünger (mein aktuelles Zeichen dafür ist, dass ich gerade eine Kundenkarte für die Apotheke meines Vertrauens beantrage)…
    Was ich damit sagen will – ich würde es gern lesen!
    Pass auf Dich auf.
    H.

  2. Hallo H. ,

    Mal eins vorweg: Du bist bisher mein erster, eingetragener “Reader”. Das rechne ich dir hoch an 🙂
    Natürlich ist es schön zu wissen, dass man gelesen wird. Andererseits kann ich auch verstehen, dass man sich mit diesem Blog schwer tut. Zum Einen liegt es an den Themen, die hier vermittelt werden. Zum Anderen am sprachlichen Stil, da gebe ich dir Recht. Klarheit in der Darstellung der Inhalte ist grundsätzlich etwas, was ich an anderen schätze. Diese Klarheit gelingt mir nicht immer, sogar häufig nicht. Das liegt, wie ich finde, an meiner manisch-überdrehten Liebe der Sprache. Diese Leidenschaft steht mir im Weg. Die stilistischen Pferde gehen schnell mit mir durch. Jedoch kommt ein Zweites hinzu: Ich liebe aber auch diese Art von Verschraubtheit. Ich identifiziere mich mit ihr, das ist der Grund, warum ich diesen Blog betreibe. Anders könnte ich es nicht. Lesbarkeit muss natürlich der Kompromiss sein. Ich arbeite daran 🙂
    Die Frage nach der Veröffentlichung meiner Gedanken in Papierform kann ich mit einem Nein beantworten. So weit bin ich noch nicht. Ich habe gewisse Vorstellungen von Qualität Da muss ich mich noch sehr steigern.
    Aber wer weiß ….

    Danke für den Kommentar, take care.

  3. Hallo!

    Was bin ich froh, dass unsere H. sich viel besser ausdrückt, als ich (danke meine Liebe!)… jetzt kann ich mich ja auch mal outen als nicht immer fähige Kommentatorin…
    Ich hab deinen Blog natürlich neben den Rambling Sisters schon lang bei den Favoriten abgelegt und schaue ja auch mehr oder weniger regelmäßig rein. Die Funktion mit dem eingetragenen Reader hab ich nun auch endlich im Dashboard gefunden und mal aktiviert.
    Am Rest arbeite ich noch, aber mich hier umtreiben werde ich mich nicht nur der wunderschönen Reisejournale wegen auch in Zukunft weiterhin!!! 🙂

    lG
    S.

  4. Du hast ja schon verschiedentlich kommentiert, worüber ich sehr dankbar bin. Und ich hatte auch nicht den Eindruck, dass du dich dabei schlecht ausdrückst 🙂
    Ich habe die Abteilung Blogreader rechts im Block nach oben gerückt, damit man besser auf ihn aufmerksam wird. Den Seitenaufrufezähler ganz oben werde ich bald wieder entfernen. Mit ihm wollte ich ein Gefühl bekommen, ob und wie der Blog überhaupt frequentiert wird.

    Gruss

    A.

  5. Also, dass die anderen Ramblingsisters noch keine eingetragenen “Reader” sind – das geht ja gar nicht! 🙂
    Und noch etwas zum Klarstellen: Du musst keine Verständlichkeits-Kompromisse eingehen – Deine, wie Du es ausdrückst, “Art von Verschraubtheit” ist in einem solchen Blog genau richtig.
    Ja, es dauert etwas, bis man sich darauf einlassen kann.
    Ja, es ist mir nicht immer alles verständlich, soweit, dass ich sogar mal ins Wörterbuch schauen muss.
    Ja, manchmal denke ich: Was geht in diesem Kopf nur alles vor?
    Ja, manchmal frage ich: Kann er das nicht auch einfacher ausdrücken? (aber wozu, es ist doch DEIN Blog)
    Und JA, ich lese das Blog genau wegen diesen Fragen – und wenn ich sie mir hundertfach stelle – ich lese weiter. Vielleicht aus eben genau diesen Gründen 🙂
    Egal auch – zum Philosophieren bist Du schließlich da – ich bin ein dankbarer Konsument!

  6. Das nehme ich mal als eine Art von Absolution meines Schreibstils zur Kenntnis *g Jedoch, ich bin hoffentlich lernfähig, gerade der besseren Verständlichkeit wegen und meines Anspruchs an Lesbarkeit des Blogs. Den Griff zum Wörterbuch allerdings werde ich dir nicht ersparen, habe ich diese Wörter mir selbst hart erarbeiten müssen. Wie in dem Post “Fremdwörter” erwähnt, ist das ein richtiges Hobby geworden.

    LG

    A,

  7. Falls du für die Elementarphysiker noch ein Laserschwert brauchst, du weißt, ich löse gerade meinen Haushalt auf und unterstütze subversive Aktionen immer sehr gerne!

    Ein Mitglied möchte ich jedoch nicht werden, ich fühle mich ohne etwas besser.

    Außerdem bin ich so altmodisch, dass ich die Seite gerne manuell aufrufen möchte und mich dem Moment des Entzückens ergebe, wenn ich einen neuen Artikel entdecke.

  8. Hi B. ,

    da sind ja schon ein paar sprachliche Fußangeln in deinem Kommentar. Das mit dem “Mitglied” erschloss sich mir erst nach heftigem Nachdenken über die potentiellen Gefahren einer Mitgliedschaft in diesem Blog. Ich hätte sofort die Rechnung mit deiner feinen Ironie machen sollen 🙂
    Dass dich das Lesen des Blogs mit Entzücken erfüllt freut mich und gibt Ansporn fleissig weiter zu posten. Dir alles Gute bei deiner Rückkehr ins geliebte kölsche Rheinland.

    A.

  9. Ich danke dir, mein liebster Schreibender!

    Mir gibt jedoch zu denken, dass du auf das Laserschwert nicht eingegangen bist. Ich hätte es eventuell in Leserschwert umbenennen sollen?^^

  10. Da spricht die World of Warcraft Anhängerin 🙂 Ich muss leider gestehen, dass ich die Starwars-Laserschwert-Sequenzen immer als filmische Zumutung empfunden habe, vor allem, als von Alec Giuness nur noch sein mönischer Umhang überblieb. Und: ich habe real nichts gegen Elementarteilchenphysiker vorzubringen. Deren Job finde ich spannend und sie sind es, welche immerhin an dem Geheimnis dessen kratzen, was die Welt zusammenhält. Nur in den Momenten fiktiven Überschwangs dürfen sie das Zeitliche segnen.

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