Grace Gnade
Grace

Grace. Dieses besitzergreifende Wort hat von “Liebreiz” bis “Anmut” allerlei weitere deutsche Bedeutungen. Um zum Punkt zu kommen: Ich mag es nicht besonders. Es hat für mich vor allem die Konnotation von “Gnade” und “Gnadenfrist”. Nicht zu vergessen den französischen “coup de grâce”, mit dem ich noch überzeugter auf Kriegsfuß stehe. Gnadenschuß und Gnadenstoß, das klingt nach einem exekutierten Ausstieg in das angebrochene neue Jahr.

Postmoderner ästhetischer Schick, Bar und Lounge, ein Tresen wie aus dem Bilderbuch innenarchitektonischer Fließbandarbeit. Sitzmöbel, die dem Arsch nicht schmeicheln, in denen er hin- und herrutscht, um am Ende festzustellen, dass die Gemütlichkeit inzwischen eine Legende ist, im Mäandern der Stile untergegangen und weggeschwemmt.

Allerlei soziale Minderheiten tummeln sich dort. Schwule und Lesben, Lifestyle Fetischisten und sogar ein Anflug gewisser Angehöriger der Russendiscomafia, wie mir schien. Auch eine Strickliesel aus den seligen Zeiten der Ökobande. So fehl am Platz wie ein Eiterpickel nach der Menopause.

Eine brasilianisch anmutende Schönheit mit einem ganzen Zuckerhut wallenden schwarzen Haars schickte ein Lächeln in meine Richtung ab, adressiert an einen alten Hagestolz, der diesen Blick mitnichten als grazile Anmache interpretierte, eher als Aufforderung, meine hausbackene Brille samt Anhängsel doch bitte im nächstgelegenen Starbucks zu parken. Wie dem auch sei.

Ich habe keine Ahnung, wie man den Stil dieser Einrichtung tituliert. Eine Bildungsreise dort hinein verschließt sich mir wie die Mutterbrust (ich war ein Flaschenkind). Außerdem bin ich “ein zu alter Hund, um noch neues Gebell anzustimmen” (Stephen Fry).

Ich trinke neuerlich koffeinfreien Kaffee. Das hat mehrere Gründe, auf die einzugehen mir aktuell die Muse fehlt. Ich erwähne diesen Umstand nur, weil er in engem Zusammenhang mit meiner posttraumatischen Flucht aus diesem Etablissement steht.

“Alles in Ordnung bei Ihnen?” oder alternativ (5 Sekunden später) “Alles gut bei Ihnen”?

Zu oft hörten wir diese Worte, von einer Kellnerin an uns alle gerichtet und heute an mich, der ich ihr liebend gerne den lauwarmen Kaffeeausguß vor die Füße gespieen hätte. Beide aufgeworfenen Fragen lassen erahnen, was passiert, wenn eben nicht alles in Ordnung ist. Man fühlt sich dabei wie vor einem Fanal zum selbstzerstörerischen Stoßangriff auf die feindlichen Schützengräben vor Verdun, oder als käme man schnurstracks aus der Hölle einer Waterboarding Folter. Hier kommt die tiefenpsychologische Bedeutung des coup de grâce wieder ins Spiel.

Ich nuschelte etwas von “könnte besser gehen” und “meine Frau liegt in den Wehen”, drangsalierte mein Buch und meine Kladde zurück in den Rucksack, wischte mir den Rest der labbrigen Brühe vom Munde und düste Richtung Ausgang, als wären die apokalyptischen Reiter hinter mir her. Draußen atmete ich. Ich schlug die Hände zum Himmel und murmelte “Gnade”. Vom natürlichen Recht auf einen guten Kaffee schwieg ich ………  Grace!!

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Achim Spengler
Achim Spengler

Hier finden Sie Beiträge zur britischen und amerikanischen Literatur, zur Geschichte Großbritanniens und Irland. Auch Betrachtungen zur Philosophie kommen nicht zu kurz. Sie können mich aber auch zu Reisen nach Irland, England, Wales und Schottland begleiten.

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2 Comments

  1. Herrlich, vom Sitzschmerz bis zum aufdringlichen Versuch, überteuerte Plörre unters Volk zu bringen… ich fürchte, die Beschreibung trifft auf 7 1/2 von 10 dieser Etablissements zu heutzutage.
    Nun ja, die Hoffnung – auf einen “gnädigen” Platz zum Kaffee und Lektüre genießen – stirbt bekannt zuletzt… 😉

  2. Grundgütiger…bleib in Deinem geliebten UC und schreib um Himmels Willen mal über dieses “Oben Ohne” Etablissement, das es leider nicht mehr gibt. Hoffe natürlich inständig, dass aus dem genannten freizügigen Ort nicht eben jener geworden ist, den Du gerade beschrieben hast. Schade drum….
    Du bist nun schon aufgebrochen zu neuen (Kur)Ufern dort soll es Dir nicht so gehen wie weiland HC auf dem Zauberberg…
    Cunitia

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